Titel: Vampir Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: kimerascall@gmx.de Original FSK: ab 16 Kategorie: Parallelwelt Ereignis: Halloween 2025 Erstellt: 21.10.2025 Disclaimer: alles Meins! Hinweise ~ Thi-Anh und Phileas verhandeln in „Phantom“ zuerst miteinander ~ Vidale und Chise treten in „Vidale“, „Chise“ und „Phantom“ auf ~ Artemis und Detorix erscheinen in „Zonenrandzombie“, „Friede, Freude, Eierkuchen!“, „Vidale“, „Chise“ und „Phantom“ ~ Valentejn, Lahyrim und Ludmilla bringen Schwung in „Zonenrandzombie“ ~ Malcolm, Kalong, Sacrophilos und Lycaena leiten „Die letzte Kampagne“ ein ~ Kurtinos hütet bereits in „Friede, Freude, Eierkuchen“ das Archiv 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 1w1 Vampir Thi-Anh schlüpfte ohne Mühe aus seinem Kapuzenmantel, faltete den leichten Stoff ordentlich. Das hätte Aufsehen erregen müssen, da er außerordentlich unbekleidet war, überdies im Frühling nicht gerade eine gesundheitsförderliche Disposition. Allerdings war Thi-Anh ein Phantom, konnte nach Belieben seine Körperdichte verändern. Der Kapuzenmantel, mit zwei unterschiedlichen Seiten, machte ihn für Menschen grundsätzlich unsichtbar. Zudem hielt er die Temperatur, was Leib- und andere Wäsche sowie Fußbekleidung überflüssig machte. Leider war der wunderbare Stoff weder wasserdicht noch feuerfest. DAS hatte recht spektakulär das Erfinder-Einhorn Artemis herausgefunden. Thi-Anh verstaute das schmale Bündel auf halber Sichthöhe im Geäst, bevor er sich von einer Brise unterstützt höher in den noch kahlen Baum treiben ließ. Bis er aus einiger Distanz Einblick in die Fensterfront eines kaum bemerkenswerten Bürogebäudes hatte. Durchaus von Bedeutung waren allerdings diverse Sicherheitseinrichtungen. Kameras, Scanner, Schleusen: er hatte das Gebäude bereits einmal „betreten“, fühlte sich dort jedoch ganz und gar nicht wohl. Auch wenn es bisher noch keiner menschlichen Technik gelungen war, ihn in Phantomform abzubilden. Das galt allerdings nicht für andere Finessen wie Schleusen nach Gewicht oder Lichtschranken. Thi-Anh konnte sie überwinden, durchaus, unterzog sich jedoch der Anstrengung nur im Notfall. Ein Notfall lag nicht vor, weshalb er sich im Geäst einen leicht schaukelnden Ankerpunkt auswählte und konzentriert in die Fenster spähte. Ja, unverkennbar! Hinter der Dreifachverglasung, nicht durch ein Lamellenrollo abgeschirmt, beugte sich ein groß gewachsener, athletischer Mann über leuchtende Flächen, vermutlich einen aufgeklappten Rechner. >Tablet? Convertible?<, grübelte Thi-Anh in Gedanken. Der Mann trug schwarze Anzughosen, eine schwarze Weste, ein weißes Hemd und die schulterlangen, schwarzen, glatten und schweren Haare mit einer schlichten Spange im Nacken zusammengefasst. Man erkannte ein gewisses, einfallslos wirkendes Muster, denn der Teint des Mannes war hell, fast bleich, im starken Kontrast zu Haaren und Anzug. Auffällig dazu wirkte auch eine komplett abgeschlossene Brille, ebenfalls schwarz, die wie ein Riegel von Ohr zu Ohr sämtliche Einblicke verhinderte. Aus der Distanz konnte Thi-Anh nicht verstehen, was gesprochen wurde. Zu seiner Verlegenheit empfand er sein mangelndes Interesse für die Okkupation des menschlichen Mannes nicht als beschämend. Phileas arbeitete in einer auf Wirtschafts- und Steuerrecht spezialisierten Kanzlei. Eine Beschäftigung mit formaler Bekleidung, in Innenräumen, auf Text- und Zahlenformen konzentriert. Thi-Anh seufzte lautlos im Geäst. Er selbst mochte es, außerhalb von Gebäuden zu agieren. Von Nichtbekleidung ganz zu schweigen. Im Sicherheitsdienst für die daimonischen Pendelnden zwischen den Welten zu agieren, das kam seiner natürlichen Beschaffenheit als Phantom entgegen. Er liebte es, sich mit den unterschiedlichsten Wesen zu unterhalten. Nicht gerade die gemeinsame Basis für eine Freund- geschweige denn Liebschaft! Dennoch. Auf unerklärliche Weise war es Phileas gelungen, Szenarize Detorix zu überzeugen, ihn NICHT mit den Wundertaten eines Tintenfisches für selektiertes Erinnerungsvermögen in Kontakt zu bringen. Gleichwohl verfolgte Detorix ihre Verbindung mit argwöhnischer Aufmerksamkeit. >Verständlich<, dachte Thi-Anh und genoss eine sanfte, wenn auch kühle Brise, die durch das Geäst fuhr. Szenarize Detorix war uneingeschränkt Optime für Bürokratisch und die Menschenwelt. Außerdem kannte er sich mit der „menschlichen Natur“ aus. Wie Isidor von Spangenburg fand er sie erheblich verbesserungsbedürftig. Allerdings galten für sie alle die Gebote vom Großen M: nicht einmischen und nicht verletzen (ausgenommen Selbstverteidigung). Nach Auffassung von Isidor von Spangenburg konnte „Evolution“ bei Menschen nur Theorie bleiben. Er sah sich in dieser Auffassung gerechtfertigt, weil er a) Mensch gewesen war b) seit Jahrhunderten als Instrukteur lehrte und c) eine Fehlkonstruktion erkannte, wenn er sie sah! Ausnahmen bestätigten die Regel. Darin waren sich zumindest Detorix und Isidor von Spangenburg einig. Man musste jedoch verhindern, dass die immanente, grassierende menschliche Blödheit sich auf daimonische Gemüter ausbreitete! Deshalb sollte die Existenz von daimonischen Wesen, der Daimonenwelt, der daimonischen Sprache und allem, was damit zusammenhing, geheim bleiben. Jüngst jedoch, als der Zwischenfall mit den Portalen aufgetreten war, hatte Detorix sich für eine radikale Maßnahme entschieden. Menschen, die bereits mit daimonischen Wesen ihr Leben teilten, wurden zu einem gemeinsamen Fest eingeladen. Es waren mehr, als sie selbst vermuteten. Es gab ein wiedereröffnetes Portal und in Bälde zumindest ein schützendes Gewächs. Für den Notfall. Für den Fall, dass die daimonischen Wesen die Menschenwelt verlassen mussten ohne einen Zeitpunkt für die Rückkehr zu kennen. Und ihre menschlichen Liebsten zurücklassen mussten. Denn lebendige Menschen konnten Portale nicht passieren. Thi-Anh schüttelte sich unbehaglich. Er KONNTE in der Menschenwelt ungesehen und unbemerkt agieren. Andere, die hier von Detorix als Quasi-Menschen „eingebürgert“ worden waren, blieben sichtbar. Wenn Menschen erfuhren, dass unter ihnen fremde Wesen lebten (zwar seit Jahrtausenden, aber was galt das schon?!), würden sie fliehen müssen. Was würde mit denen geschehen, die um das Geheimnis gewusst, es und ihr Leben geteilt hatten? Detorix und Isidor von Spangenburg gaben sich keinerlei Illusionen hin. Möglicherweise gelang es, ein paar Menschen zu verbergen. Ein offener Kampf, da blieb der Große M unerbittlich, war verboten. Keine Einmischung. Ganz gleich, wie entsetzlich und grausam Menschen einander über die Jahrtausende begegnet waren, welche Gräuel sie verübten. Thi-Anh war sich bewusst, dass er in einer friedlichen Gegend seinen Dienst versah. Es mochte Streit geben und auch Kriminalität, aber keinen Krieg, keine Seuchen, keinen alltäglichen Mord und Totschlag. Er hoffte, dass sich das nie änderte. Er wünschte, dass sich die Menschen weiterentwickelten, ihre verkümmerten Sinne ausstreckten, sich selbst in ihrer Umwelt tatsächlich „begriffen“. Es sah allerdings nicht danach aus als würde dieser evolutionäre Schritt bald eintreten. Oder überhaupt auf der Agenda stehen. >Möglich ist alles<, zitierte er in Gedanken Phileas‘ spöttische Bemerkung dazu, >mathematisch-wahrscheinlich aber nicht.< Phileas hob gerade eine Hand, um die Spange in seinem Nacken zu richten. Die schwarz lackierten Fingernägel zupften kurz die schweren Strähnen zurecht. Es hieß, der Große M fände Menschen „faszinierend“. Thi-Anh konnte von sich behaupten, dass ER Phileas faszinierend fand. Dem äußeren Anschein nach wirkte der menschliche Mann streng, abweisend, nur in Absolutismen denkend. Schwarz oder weiß, 0 oder 1, richtig oder falsch, gut oder böse. Phileas, der seit seinem sechsten Lebensjahr in einem Internat für Blinde gelebt hatte, weigerte sich, irgendein Erkennungszeichen diesbezüglich zu tragen. Trotzdem beharrte er darauf, dass schwarz lackierte Fingernägel für diese Disposition notwendig seien. Derselbe Mann verbrachte die Mittagspause im Fitnessstudio in der unteren Etage, um sich allein Selbstverteidigungsübungen hinzugeben. Genetisch bedingte vollständige Farbenblindheit (Achromasie) reichte Phileas als Begründung, nur schwarze oder weiße Bekleidung und Accessoires zu wählen. Gleichzeitig erkundigte sich besagter Mann betont beiläufig nach einiger Zeit intimer Bekanntschaft, welche Farbe Thi-Anhs häufig zerrupfter Schopf und dessen Augen aufwiesen. Die Erinnerung an die Szene ließ Thi-Anh schmunzeln. Phileas gab sich Mühe, stoisch zu wirken, scheiterte doch häufig an einem intensiven Temperament. Auf seine Antwort hin, der wirre Schopf tendiere zu aschblond, während seine Iris silbern sei und somit eindeutig nicht menschlich, ordnete Phileas imperativ an, dass er eine Brille mit getönten Gläsern benötige und im Übrigen lebhafte Farben für seine Bekleidung, die Bettwäsche und andere Habseligkeiten wählen MÜSSE! Was zu einem weiteren Faszinosum führte. Phileas mied die Sonne und das Tageslicht, weil es ihn blendete, was die Spezialbrille nur zu einem größeren Teil abfangen konnte (abgesehen davon, dass er sehr kurzsichtig war). Dennoch kaperte er in ihrer gemeinsamen freien Zeit Thi-Anhs Hand und bestand darauf, mit ihm über Flohmärkte oder durch Kleingärten-Kolonien zu ziehen. Schließlich mussten Bettwaren und Geschirr ergänzt werden! Aus offenkundigen, wenn auch unsichtbaren Gründen, durfte Thi-Anh in der Menschenwelt nicht als „Person“ existieren. Somit galt es auch, in Phileas‘ Einzimmer-Appartement nur als gelegentlicher Gast in tatsächlicher Erscheinung aufzutreten. Sonst ergäbe sich bald die Nachfrage nach einer amtlichen Meldung. De facto schlief er jede Nacht in dem Französischen Bett, nun mit eigener Decke und Kissen. Die Küchenzeile beherbergte Geschirr für ZWEI Personen. Vor dem Badezimmerspiegel standen ZWEI Zahnbürsten im Becher in Habachtstellung. Lediglich bei Waschlotion und Zahnpulver erwies sich Thi-Anh als unnachgiebig: die menschlichen Varianten lösten Juckreiz und Übelkeit aus. Phileas, der so distanziert und schroff wirkte, verlangte, dass Thi-Anh selbstverständlich der Jahreszeit angemessene Menschenbekleidung bekam. Wozu konnte man schließlich Gespräche mit der freien Luft als Telefonate mit Freisprecheinrichtung/Lautsprecher tarnen?! Phileas marschierte in Kaufhäuser und zu Schuh-Filialen, hängte oder drapierte Artikel vor Umkleiden oder neben Hocker, damit Thi-Anh unsichtbar, aber verlegen, erprobte, was ihm passte. So verfügte er nun über zwei Pyjamas, drei Hosen, drei Paar Socken, vier T-Shirts, zwei Pullover, eine warme Kapuzenjacke, Turnschuhe, Schal und Mütze, Handschuhe und Leibwäsche. Viel mehr, als er in SEINER Welt besaß! Das fühlte sich nicht richtig an. Beinahe so wie...nun, Gigolos, so nannte man die ausgehaltenen „Spielkameraden“, nicht wahr? Auf den dezenten Versuch hin, Phileas‘ Beschaffungsvorhaben einzubremsen, geriet der außer sich, herrschte Thi-Anh bissig an, in SEINER Welt galten SEINE Regeln und im Übrigen könne er es sich LEISTEN, ein Privatleben zu pflegen! Thi-Anh, der diesen heftigen Ausbruch nicht erwartet hatte, entschied, sich für eine Weile zu verabsentieren. Dass Phileas „anstrengend und schwierig“ sein würde, hatte ihm Detorix mehr als einmal prophezeit. Andererseits spürte er in Phileas‘ Gebaren immer Widersprüche. Galt dessen Zorn also wirklich ihm? Fühlte er sich verletzt durch die Andeutung, es ginge um sexuelle Gefälligkeiten gegen materielle Wohltaten? Als Thi-Anh am folgenden Abend mit einem weiteren Bündel von Kräutern, die Phileas sehr gern als Aufguss trank, eine Versöhnungsgeste initiierte, wurde ihm offenbart, was so sehr gegen Phileas‘ Fell gebürstet hatte. „Ich habe dir nicht erzählt, warum ich jetzt hier wohne und arbeite, oder? Tatsächlich bin ich erst seit knapp zwei Jahren hier ansässig und tätig. Ich hatte ja mal erwähnt, wie in meiner Branche abgerechnet wird, nach Junioren-, Senioren- und Partnerschaft. Damals hatten wir im Team einen spektakulären Fall abgeschlossen. Wir wollten deshalb über unser Gehalt verhandeln. Abgerechnet wurden wir als ‚senior‘, bekamen aber weniger als die anderen. Ich sprach wie ein Kollege beim jüngst ernannten ‚Partner‘ vor. Der hielt mir einen Vortrag darüber, dass sie darauf achteten, alle nach ihren Bedürfnissen zu entlohnen. Ich brächte zwar einen Behindertenbeschäftigungs-Bonus mit, solle aber bedenken, dass ich weder Heim noch Familie, Reisen oder Transportmittel zu unterhalten habe. Das stünde, bei meinen Einschränkungen, ja auch nicht zu erwarten, weshalb es wohl nicht zu verantworten wäre, mich über meine Bedürfnisse hinaus zu entlohnen.“ Während Thi-Anh vor Fassungslosigkeit die Worte fehlten, setzte Phileas in sardonisch-ironischem Tonfall seine Erzählung fort. „Selbstredend trifft es zu, dass ich keine Transportmittel besitze, da ich sie nicht lenken kann und Reisen offenkundig sinnlos sind, wenn ich nichts ‚Sehenswertes‘ zu erfahren habe, aber es ärgerte mich maßlos. Glücklicherweise hatte der Mann nichts Besseres zu tun, als über seine ‚Sparmaßnahme‘ als erste Meriten seiner neuen Position in alkoholschwangerer Runde zu prahlen. Die Konkurrenz hörte mit und unterbreitete mir eine Woche später eine Offerte. Also ließ ich alles hinter mir.“ Deshalb war es auch so immens von Bedeutung, Thi-Anh in seiner Wohnung allen Komfort zu bieten, der möglich war. Eine Ablehnung, eine Einschränkung wäre zutiefst beleidigend! Von Mitgefühl erfüllt nahm sich Thi-Ahn vor, die präventiv aufgestellten Stacheln zu akzeptieren. Nur mit Geduld würde es gelingen, den Mann hinter der Rüstung aus Ironie, Sarkasmus und schroffer Abwehr kennenzulernen. Bisher, fand er, hatte er sich diesbezüglich auch gut geschlagen. Phileas verbrachte mit ihm seine Freizeit, spielte ihm auf dem elektrischen Bass vor, präsentierte Hörspiele, kochte mit ihm, drängte ihn, ihm Daimonisch beizubringen und interessierte sich für seinen Alltag als Sicherheitskraft. Er küsste ihn häufig, ausdauernd, leidenschaftlich, zärtlich. Wenn sie beide in Stimmung waren, folgte Sex, ohne Zwänge, in Abstimmung und verblüffender Harmonie von Bedürfnissen und Geschick. Solange sie einander so verstanden, blieb der Tintenfisch ohne Einsatz. Thi-Anh bemerkte, dass Phileas den Blick auf den Baum richtete, sich rasch mit zwei Fingern an die umschließende Brille tippte. Er lächelte, obwohl Phileas ihn nicht sehen konnte. Dann arbeitete er sich im Geäst nach unten, um sich in den Kapuzenmantel zu hüllen. 1w1 Phileas ließ seinen leichten, selbstredend schwarz gehaltenen Trenchcoat offen wehen, als er geschmeidig aus dem schmucklosen Bürogebäude trat. Er bewegte sich rasch, registrierte ein leichtes Streichen über seine Rechte. „Worauf hast du Lust? Wir müssen noch einen Abstecher in den Supermarkt machen“, formulierte er selbstbewusst, als handle es sich um ein Telefonat. „Nudeln mit Kräutersauce“, antwortete scheinbar aus dem Nichts eine vertraute Stimme munter. Phileas lächelte und spürte warme Finger zwischen seinen eigenen. „Abgemacht!“ 1w1 Die meisten Menschen im Feierabend-Getümmel konzentrierten sich auf ihre jeweiligen Technik-Gadgets (Smartphones, Kopfhörer, Armbanduhren) und schenkten ihrer Umgebung keine besondere Aufmerksamkeit. Phileas wusste, dass die Daimonen, die unterwegs waren, Thi-Anh an seiner Seite durchaus wahrnehmen konnten. Gewöhnlich wichen sie aus, gingen ihren eigenen Interessen nach, grüßten gestisch. Er achtete darauf, Thi-Anh Platz zu lassen, lauschte auf dessen geflüsterte Worte. Wenn sie auf diese Weise unterwegs waren, schwebte Thi-Anh in genau der richtigen Höhe neben ihm. Die Einkäufe verstauend ließ er seine Rechte wieder frei baumeln. Rasch flochten sich warme Finger dazwischen, erwiderten den verschwörerischen Druck. Mit jedem Tag fiel es Phileas leichter, sich daran zu gewöhnen, dass er eine Lieblingsperson in seinem Dasein akzeptiert hatte. Damit war nun wirklich nicht zu rechnen gewesen! 1w1 Thi-Anh schwebte unsichtbar auf Phileas‘ Fersen im Treppenhaus bis zu dessen Einzimmer-Appartement. Erst wenn die Tür sich schloss, schlüpfte er aus dem Kapuzenmantel. Hin und wieder brauchte er sich eine ganze Weile nicht mehr zu bekleiden, weil sie gemeinschaftlich rhythmischer Körpergymnastik auf dem Französischen Bett frönten. Heute reichte ihm Phileas Pullover und Hose, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und verstaute die Einkäufe. „Wie war dein Tag?“, Thi-Anh diffundierte förmlich in die Kleidungsstücke, eines seiner kleinen Kunststücke, schlang die Arme um Phileas‘ Hüfte. „Aufgeblasen mit Nichtigkeiten angesichts der Unendlichkeit“, antwortete Phileas leichthin, „erzähl’ mir lieber, was du heute so erlebt hast.“ Denn das war viel interessanter als juristische Fachsimpelei und Büroklatsch! Thi-Anh zwinkerte, schwebte leicht, um Phileas auf die Lippen zu küssen. „Also, da war dieser Schildpatt-Kater...“ 1w1 „Ich weiß nicht, ob mir das gefällt“, murmelte Thi-Anh schläfrig in der Semi-Dunkelheit, an Phileas angekuschelt. „Ich denke, die werden die Zombies mit dieser Laserstrahl-Diskokugel abfackeln“, vermutete Phileas amüsiert das Ende des Hörspiels. „Ist das physikalisch möglich?“, brummte Thi-Anh zweifelnd, zuckte zusammen, als das Geschrei aus den Lautsprechern hysterischer wurde. Phileas lachte, denn mit Logik, Physik und Naturgesetzen war man bei dieser Fiktion definitiv verloren! „Ich drehe den Ton runter“, wisperte er sanft, „schlaf’ ruhig ein. Ich erzähle dir morgen Früh, wie es ausgegangen ist.“ Thi-Anh schnaufte leise, ließ sich küssen. „Frikassee“, mutmaßte er. So endeten diese Horror-Geschichten doch immer! 1w1 Es gab einige Minenfelder, das wusste Thi-Anh. Als Phileas „die Zelte abgebrochen hatte“, wie er es formulierte, schien er alles zurückgelassen zu haben. Bekannte, zweifellos, wenn auch vermutlich eher auf Grußbasis. Freunde? Dazu hatte Thi-Anh keine Einlassungen vernommen. Es gab auch keine Anzeichen, etwa Schnappschüsse an den Wänden, Anrufe oder Nachrichten, die Phileas auf seinem Smartphone abspulte oder sich vorsprechen ließ. Thi-Anh hatte unzählige Bekannte, sehr viele Freunde und auch eine Familie. Er konnte sich eine Existenz nur mit dem Berufskollegium und der Nachbarschaft auf Grußbasis gar nicht vorstellen. Besonders „Familie“ war jedoch bei Phileas ein offenkundiges Tabu-Thema. Für ihn war mit der Erkundigung, ob Thi-Anh Eltern (ja) und Geschwister (leider nein) hatte, das Feld abgegrast. Umgekehrt beschied er Thi-Anh, dass er keinerlei Kontakt zu Blutsverwandten habe und diesen Zustand tunlichst beizubehalten anstrebe. Vorgetragen in einem Tonfall, der jede weitere Nachfrage explizit verbat. Da nahm es sich schon weniger unerfreulich aus, die „Vampir“-Erscheinung spaßeshalber zu disputieren! Glücklicherweise hatten sich die persönlichen Verletzungen, die zu Phileas‘ heftiger Reaktion auf die zwei daimonischen Kultur-Attachés führten, aufklären und versöhnen lassen. Das ließ Thi-Anh darauf hoffen, dass Phileas trotzdem doch noch Freunde fand, ihm vielleicht etwas anvertraute, was seine Familie und sein Leben vor ihrem Aufeinandertreffen betraf. 1w1 Phileas staunte über sich selbst. Es war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen, sich für einen nahbaren Menschen zu halten. Selbst wenn er Leidenschaften entwickelte, beschränkten sich diese auf kurzzeitige Intensität, was auf den körperlichen Austausch beschränkt blieb. Mit anderen Worten, er hatte sexuelle Begegnungen genossen, wenn sie sich boten, unabhängig von der biologischen Ausstattung des Gegenüber, sie jedoch nicht gesucht. Vertraulichkeiten auf geistiger Ebene blieben ausgeschlossen. Mit Thi-Anh entwickelte sich ein besonderes, unerwartetes Verhältnis. Er mochte es, den etwas kleineren (einen halben Kopf) Daimonen zu liebkosen, ihn zu küssen und dessen Gedanken zu erforschen. Man musste sich dafür selbst entblößen, was Phileas nicht gerade leichtfiel, doch unter dem Damokles-Tintenfisch war er bereit, sich zu offenbaren. In kleinen Schritten. Denn es bedeutete, sich verletzlich zu zeigen, eine offene Flanke für jede Attacke zu bieten. Die Notwendigkeit hatte sich ihm bisher nie erschlossen. Er konstatierte für sich selbst, nicht geeignet zu sein, sich zu verlieben. Die Begleitumstände erschienen ihm schlicht zu lästig, wenig vertrauenswürdig und kaum auf eine längere zeitliche Basis ausgerichtet. Seit ihrer ersten Konfrontation vor dem Valentinstag waren fast vier Monate vergangen, somit der erste „Rausch“ verflogen. Nach landläufiger Definition. Sie waren aneinander geraten (soweit man das mit Thi-Anh überhaupt konnte), hatten sich gestritten, versöhnt, einander Brücken gebaut. Nicht zu vergleichen mit der professionellen Distanz, die Phileas sonst aufrechterhielt. Da blieb er konstant höflich, verbindlich, aufmerksam. Und unnahbar. Wie lange mochte seine Veränderung anhalten? War sie dauerhaft? Phileas konnte Geduld aufwenden, das wusste er. Alle, die sich mit juristischen Auseinandersetzungen auskannten, mussten Leidensfähigkeit, Akribie und Geduld mitbringen. Ebensolches galt für das Erlernen und Aufrechterhalten seiner Fähigkeiten zur Selbstverteidigung. Ja, er wollte Daimonisch lernen, in Sprache und Schrift, was ihm eher Langmut als Geduld abverlangte, aber das erschien ihm eher eine Liebhaberei wie sein Spiel auf dem elektrischen Bass. Es...lag einfach nahe. >Erschreckend<, schmunzelte er über sich selbst, >ich verwandle mich doch noch in ein halbwegs gesellschaftlich akzeptables Wesen!< 1w1 Phileas blickte sich nicht um, obwohl er sich konzentrierte und die Versuchung groß war. Keine unsichtbare Berührung, keine sanft-amüsierte Begrüßung an seinem Ohr. Hatte Thi-Anh noch zu tun? Oder war ihm das Warten zu lange geworden und er selbst vorausgegangen in die Wohnung? Obwohl Anfang Dreißig neigte Phileas nicht dazu, sofort ein technisches Gadget zu bemühen, um herauszufinden, wo sich seine Lieblingsperson gerade befand. Das hätte auch wenig Sinn gehabt, da Thi-Anh im Einsatz außer dem Kapuzenmantel gar nichts mit sich herumzutragen pflegte. Außerdem wirkte es wie eine Kontrollmaßnahme. Phileas verabscheute den Gedanken, sich privat der Kontrolle anderer unterordnen zu müssen. Ähnliche Empfindungen setzte er auch bei Thi-Anh voraus. Mit ausgreifenden Schritten, der sommerlichen Hitze geschuldet, den Hut tiefer gezogen, um mit der Krempe sein Gesicht zu beschatten, beschleunigte er. In seinem Nacken prickelte es. Phileas vertraute seinem Unterbewusstsein. Es war durch leidige Erfahrung und Übungen trainiert, seine Achromasie auszubalancieren. Verfolgte ihn jemand? Das geschah nicht zum ersten Mal. Er wirkte ja auch wie ein leichtes Opfer. >Hm<, dachte er grimmig, doch gerade kam ihm kein Fall in den Sinn, der besonderen Groll hervorrief. Andererseits pflegten manche ihre Rachegelüste über Jahre zu schüren. Ihm war in der Vergangenheit schon aufgelauert und gedroht worden. Er hatte sich auch körperlich vehement zur Wehr setzen müssen. „Dir läuft jemand nach. Untersetzt, Jeans, Rentnerjacke, Baseball-Kappe“, wisperte ein Windhauch an seinem Ohr. Thi-Anh in seiner Phantom-Erscheinung. Wenn er flog, musste er den Kapuzenmantel irgendwo versteckt haben. Im Vorbeigehen warf Phileas flüchtige Blicke in Schaufenster und Windschutzscheiben. >Aha!<, knurrte er innerlich, wählte einen Durchgang zwischen Mehrfamilienhausblöcken. >Wollen doch mal sehen, warum der Bursche mich stalkt!< 1w1 Thi-Anh erkannte die Falle, die Phileas stellte. Hochgeschwindig wischte er herum, um eilig seinen Kapuzenmantel aus einem Busch zu bergen, sich umzuwerfen und den Weg zurückzuflitzen. War der Verfolger, der sich um das Bürogebäude herumgedrückt und -gelungert hatte, der Versuchung erlegen? Was mochte er von Phileas wollen? Thi-Anh unterdrückte die Sorge um dessen Wohlergehen. Er DURFTE nicht eingreifen! 1w1 Geländekenntnis erwies sich als Vorteil. Phileas war nicht selbstherrlich genug, direkt am Zugang des Stichwegs zu warten. Da hätte sein Verfolger leicht kehrtmachen und auf die Straße laufen können. Nein, er entschied sich für die scharfe Kurve hinter dem Müllkäfig. Ansatzlos schoss er dem untersetzten Mann in den Weg, der schon leicht außer Puste wirkte. „Darf man wohl erfahren, warum Sie mir nachlaufen?“, heischte Phileas eisig um Auskunft, verstellte den Fluchtweg. „Puha, hab’ ich mich erschrocken!“, keuchte ein mittelalter Mann, der keineswegs bemerkenswert wirkte. Gleichmäßige Züge, rasiert, unter der Baseball-Kappe zurückweichende Haare undefinierbarer Farbe, wasserblaue Augen, dezente Hängebacken. Phileas lupfte die Augenbrauen grimmig. „He, Großer, nur keine Aufregung! Rein beruflich, das Ganze!“, betonte der ältere Mann in einem jovialen Tonfall, der gar nicht zur Situation passte. „Über diese Tätigkeit müssen Sie mich wohl aufklären“, ätzte Phileas frostig. Das theatralische Japsen einstellend zwinkerte der Mann, hob beide Handflächen als friedensstiftende Geste. „Private Ermittlungen. Phileas Grayveston, nicht wahr? Die liebe Familie.“ 1w1 Wäre Thi-Anh nicht schon sehr vertraut mit Phileas‘ Mienenspiel gewesen, hätte er das kurze Aufblitzen infernalischer Wut nicht erkannt. Übung und die imponierende Brille verhinderten üblicherweise, dass man mehr zu sehen bekam, als man sollte. Er wusste, dass Phileas ihn gerade außer Hörweite wünschte. Dass der Privatdetektiv auch das Weite suchte, nachdem Phileas ihm unmissverständlich erklärt hatte, sich auf Lebenszeit aus seinem Gesichtsfeld zu entfernen, konnte er nachvollziehen. Die Frage blieb: sollte er Phileas folgen oder ihm Gelegenheit geben, sich zu sammeln? 1w1 Phileas brodelte noch immer, als Thi-Anh leise an die Tür klopfte. Er entriegelte sie, trat beiseite. Im Inneren herrschte die übliche Semi-Dunkelheit. Thi-Anh nahm den würzigen Duft des Kräuteraufgusses wahr, den er aus der Daimonenwelt mitbrachte, inzwischen Phileas‘ Lieblingsgetränk. „Danke, dass du mich einlässt“, wagte sich Thi-Anh mutig vor, streifte gewohnt unbefangen den Kapuzenmantel von seinen Schultern. Phileas knurrte guttural, umschlang Thi-Anh unerwartet heftig und hielt ihn in seinen Armen fest. „Bitte sag’ mir, wie ich helfen kann“, wisperte Thi-Anh, in die Halsbeuge geschmiegt, erwiderte die Umarmung mit aller Kraft. „Du könntest wohl nicht diesen Pompadour-Beutel schwingen und die letzte Viertelstunde aus unserem Gedächtnis radieren?“, schnaubte Phileas mit Galgenhumor, lachte bitter auf. Nicht, dass der Friedensstifter bei ihm jemals funktioniert hatte. Auf eine Antwort verzichtend stemmte sich Thi-Anh auf die nackten Zehen und küsste die grimmig zusammengepressten Lippen. „Wir können darüber sprechen. Oder gemeinsam schweigen. Kuscheln“, offerierte er Alternativen, die im Erreichbaren lagen. Phileas senkte den Kopf leicht, sodass Thi-Anh spürte, wie ihn die Augen hinter der gewaltigen Brille fixierten. „Können wir auch vögeln?“ 1w1 Thi-Anh fürchtete sich nicht vor der Intimität. Phileas war selbst in seiner Phase der Erprobung düsterer Machenschaften nie gewalttätig geworden, wenn sie miteinander schliefen. Intensiv, oh ja. Aber nicht brutal oder tatsächlich bedrohlich. Auf gelöste Weise ermattet schmiegte sich Thi-Anh deshalb nach dem explosiven Austausch von Hormonen, Körpersäften und Energie an die mondscheinblasse Gestalt mit den überschulterlangen schwarzen Haaren. In der Semi-Dunkelheit flackerten Phileas‘ schwarze Augen, während er am Kräuteraufguss nippte. „Ich will mit ihnen nichts zu tun haben“, bemerkte er knapp, was Thi-Anh schon dem kurzen Austausch mit dem Privatdetektiv entnommen hatte. „Glaubst du, dass die Antwort ausreicht?“, erkundigte er sich leise, strich über die strengen Linien, die Phileas‘ grimmige Miene prägten. Der schnaubte, angelte nach Thi-Anhs Tasse, um ihn zu einem Schluck zu ermutigen. Oder ihn zum Schweigen zu veranlassen. „Der alte Mann hat das Internat bezahlt“, begann er leise, „aber ich bin ihm nie begegnet, habe nie ein Wort mit ihm gewechselt. Vermutlich Pflichtgefühl oder Überdruss eines weiteren Skandals“, mutmaßte er bitter. Thi-Anh verriet sich durch Körpersprache. Mitgefühl war ein zweischneidiges Schwert in Phileas‘ Gegenwart. „Oh, kein Grund, sich um mich zu sorgen!“, ätzte der prompt, „ich konnte und kann mit dieser Lösung sehr gut leben. Du musst wissen, dass meine werten Erzeugenden nur äußerst bedingt gesellschaftsfähig waren.“ Thi-Anh streichelte wagemutig durch die langen, schweren Strähnen. Offenbar wollte Phileas den Schleier des Schweigens nicht lüften, sah sich aber durch die Umstände zu Vertraulichkeiten genötigt. „Ach, verdammt“, knurrte der leise, rieb sich mit den Knöcheln die Schläfen, senkte die Lider über die dunklen Augen, deren Pupillen hektisch zuckten. „Das war ein sauberes Pärchen, meine Eltern. Eine lächerliche Farce von zu viel altem Geld, Dynastien, Geltungs- und Freiheitsdrang, Rauschmitteln und wirren Fantasien über ihre Zukunft.“ Phileas schnaubte. „Man kann nicht mal behaupten, dass sie sich gesucht und gefunden haben. Das war lediglich ein temporärer Irrtum auf zwei gewundenen, von Irrtümern, Skandalen und anderen Katastrophen gepflasterten Wegen. Ich würde sie vermutlich nicht mal erkennen, wenn wir uns heute begegnen würden. Was ich tunlichst vermeide“, ergänzte er ätzend. Thi-Anh lehnte sich wie üblich an seine Seite. Die Fingerspitzen zeichneten Figuren auf seiner nackten Haut. Phileas atmete tief durch. „Soweit mir bekannt ist, war ich keineswegs eingeplant. Das war eine Art Techno-Hippie-Phase, kurz, schrill und selten nüchtern. Nach meiner Geburt folgte bei meiner Mutter die Phase religiöser Erweckung, wenn man das so nennen möchte. Allerdings eher in der Rosemarys Baby-Variante.“ Er spürte, dass Thi-Anh mit dieser Anspielung auf einen Horrorfilm nichts anfangen konnte. Kein Wunder, der Streifen war zwar berühmt, jedoch auch betagt. „Sie betitelte mich laut Protokoll als Ausgeburt der Hölle, bekam einen Nervenzusammenbruch und anschließend einen Aufenthalt in einem privaten Sanatorium für begüterte Bekloppte. Mein Vater war gerade auf Entzug in der Obhut seiner Familie. Deshalb landete ich quasi von der Babykrippe direkt in der wohlwollenden Betreuung diverser Pflegeeinrichtungen. Leider habe ich ihnen das Vergnügen missgönnt, mich rasch wieder von der Erdoberfläche zu verabsentieren und stelle ungeniert einen Schandfleck in ihrer Biographie dar.“ „Ich bin froh!“, stieß Thi-Anh hervor, sprang ihm förmlich auf Knien um den Hals, „hörst du?! Ich bin FROH, dass du lebst! Du bist ganz sicher keine Ausgeburt der Hölle!! Ich kenne jede Menge Daimonen, und du bist wirklich keiner. Leider!“ Denn dann hätte er Phileas seine, nein, IHRE Heimat zeigen können! Nach einem Überraschungsmoment begann der zu lachen, umarmte Thi-Anh innig. „Keine Ausgeburt der Hölle, leider?! Herrje, so habe ich das noch nie betrachtet! Wirklich, ich fange an, das zu bedauern“, prustete er, lehnte die Stirn an Thi-Anhs. „Du bist in Ordnung, genau so, wie du bist“, wisperte Thi-Anh eindringlich an seinen Lippen, „Phileas, du bist du, nicht deine Eltern, deine Herkunft, deine Familie!“ Auch wenn er bedauerte, dass Phileas ohne die Zuneigung einer Familie hatte aufwachsen müssen. Der schmunzelte. „Tja, ich bin nicht mal ein richtiger Vampir, hm? Das versetzt meinem Selbstbewusstsein schon einen Schlag“, neckte er Thi-Anh. „Du bist mein Lieblingsmensch“, stellte Thi-Anh ernst fest, funkelte mit seinen silbernen Augen, „das ist für mich äußerst bedeutend.“ Phileas lächelte, verabschiedete seinen Spott. „Du bist mein Lieblings-Daimon. Meine Lieblingsperson überhaupt“, antwortete er entschieden, „und wenn es all dieser Kapriolen bedurft hatte, damit wir uns begegnen, dann waren sie es wert.“ 1w1 Phileas verstaute die unerfreuliche Begegnung mit dem Privatdetektiv in einem mentalen Koffer auf dem imaginären Dachboden seines Gedächtnisses. Der alte Mann konnte seine Reichtümer vererben, wem er wollte: ER war nicht interessiert. Das konnte der Privatdetektiv auch genauso weitergeben. Wäre es möglich gewesen, hätte Phileas sogar den Nachnamen geändert, um alle Distanz zwischen sich und seine Familie zu setzen. Er kannte sie nicht, wollte sie nicht kennenlernen und wünschte sich eine Koexistenz ohne jede Begegnung. Ob sich die Mischpoke des alten Mannes, darunter auch sein Erzeuger, nun prügelten, wer was bekam oder nicht bekam im Erbfall, das war ihm gleichgültig. Im Übrigen schien es seltsam, dass der alte Mann ausgerechnet den Enkel großzügig bedenken wollte, den er nie kontaktiert hatte. Möglicherweise reichte es schon, wenn der Privatdetektiv mitteilte, dass Phileas mit einem jungen Mann liiert war? Thi-Anh sprach den Vorfall nicht mehr an, konzentrierte sich aber darauf, Phileas zu beobachten, stets seinen Dienst rechtzeitig zu beenden, um auf ihn zu warten. Er wünschte sich, die Ungewissheit über das angedrohte Vermächtnis aus ihrem Leben streichen zu können. 1w1 Trotz sommerlicher Hitze streifte sich Phileas lediglich das Jackett ab, faltete es über einen Arm. Das weiße Hemd blieb ungekrempelt trotz langer Ärmel. Er blickte sich um, fand nichts Bemerkenswertes und ging los. Thi-Anh würde aufschließen, wie immer. Sollten sie noch einen Abstecher in den Supermarkt unternehmen? Erdbeer-Sorbet könnte Thi-Anh schmecken. Er nahm die Abkürzung durch einen Hinterhof, eilte entlang eines schmalen Gässchens neben der Lärmschutzwand. Früher hatte man es genutzt, um Grünschnitt aus den handtuchschmalen Gärten per Schubkarre abzufahren. Als er hinter sich eine Bewegung registrierte, wandte er sich herum, in Erwartung, Thi-Anh zu spüren. Stattdessen traf ihn ein kurzer, intensiver Einschlag in den Brustkorb. 1w1 Thi-Anh ließ den Kapuzenmantel fallen, löste sich, flog auf Phileas zu. Der war auf dem ausgedörrten Grasstreifen zusammengebrochen. >Nein<, zischten die Atome in der elektrischen Verbindung, >NEIN!< 1w1 Artemis, der gerade ein Schwätzchen mit dem Baum-Daimon im Hof hielt, während er aus den Hängekörbchen Erdbeeren absammelte, zuckte heftig zusammen, als er die Druckwelle spürte. „Oh nein!“, wisperte er verschreckt, ließ das Töpfchen stehen und stürzte in das Backsteinhäuschen. 1w1 Detorix war nicht amüsiert. Eher aufgebracht. Sehr, SEHR wütend. Dass ihm mal wieder eine Auseinandersetzung mit dem Friedensgericht und Thekla Anuphobis drohte, stellte noch das geringste aller Übel dar. Er schob sich grimmig ein Pfefferminzbonbon in die Backe, justierte seinen Borsalino über der Glatze und verabschiedete sich, um herauszufinden, wie viele andere Beteiligte er zu BETROFFENEN seines Zorns machen konnte. 1w1 Thekla Anuphobis, Vorsitzende des Friedensgerichts und langjährige Sparringspartnerin von Szenarize Detorix, blies Rauchwolken ihres Zigarillos in den Abendhimmel unter den zwei Sonnen. Ihre Augenpaare richteten sich ins Ungefähre, was Detorix zu schätzen wusste, da sie alle niederzustarren pflegte. „Widerlich“, konstatierte die Vorsitzende schließlich. Das war nach Detorix‘ Einschätzung eine euphemistische Beschreibung. SEINE Einschätzung konnte man kaum druckreif nennen. „Trotzdem, merkwürdig“, der Zigarillo wurde gründlich zerbröselt. „Das kann ich erst beantworten, wenn die Medis mir Zugang gestatten“, griff Detorix den Gedanken auf. „Hmm“, brummte Thekla Anuphobis, „kommt es dir nicht auch manchmal seltsam vor, dass sich diese kuriosen Ereignisse bei dir kulminieren?“ Detorix schnaubte. „Die Besten können es sich nicht aussuchen“, knurrte er grimmig. Er hätte ja Madame Fortuna einen Nasenstüber versetzt, bloß mochte der Große M keine Keilereien mit Ex-Göttlichkeiten! 1w1 Es schwankte. Der intensive Geruch von Pfefferminz. Jemand sprach. Daimonisch? „Ah, du wirst wach“, stellte eine vertraute Stimme grimmig eine Behauptung auf. Phileas krächzte. „Langsam, die Hängematte ist zwar für schwere See geeignet, aber ich will mir nicht den Rücken verrenken, wenn ich dich über Bord vom Boden aufklauben muss“, grummelte es sonor. >Detorix!<, meldete sich Phileas‘ Gehirn endlich. „Zunächst mal kurz die Fakten: ich gebe dir gleich etwas zu trinken gegen die Staubflocken auf dem Leckbrett. Wir haben dir ein Stoffband umgebunden, weil deine Brille zerbrochen ist“, erläuterte Detorix. Phileas blinzelte, verzichtete darauf, seine bleischweren Gliedmaßen zu sortieren. Eine Hand umschloss seine, legte die Finger um ein Gefäß. Ein wahrhaftiger Strohhalm drängte sich zwischen seine Lippen. Phileas saugte gierig. „Wo bin ich? Was ist passiert?“, lieferte er die übliche Eröffnung. Nicht originell, aber nachvollziehbar. „Hängematte, Medi-Zentrum, auf der anderen Seite des Zauns“, brummte Detorix, knackte geräuschvoll sein Pfefferminzbonbon. „Aber...“, krächzte Phileas, als seine Gehirnwindungen langsam die Spur aufnahmen. „Ganz recht“, grummelte der Szenarize brummig, „technisch gesehen bist du tot.“ 1w1 Nicht gerade eine Situation, die Phileas behagte. Allerdings gab es keine Alternative, deshalb akzeptierte er das Herumwuseln. Jemand namens Ölifax duschte ihn auf einem Hocker platziert ab. Geübt und munter vor sich hin summend. „Gleich kommt das Trockengebläse“, zuvorkommender Weise übersetzte Ölifax sein Daimonisch auch in Phileas‘ Sprache, „dann helfe ich dir mit Hemd und Hose. Sehr praktischer Stab!“ Phileas stöhnte leise. Seinen klappbaren Blindenstock hatte er nur zu Übungszwecken genutzt. Unwillkürlich presste er die Rechte auf seine Brust. Er spürte keine gewohnte Vibration, kein Klopfen. „Verdammt“, wisperte er hilflos. 1w1 „Wir müssen uns unterhalten.“ Das hatte Detorix ihm angedroht. Daran bestand kein Zweifel, auch wenn Phileas sich die Kehle zusammenschnürte. Er verstand einfach nicht, wie er sich in dieser Lage befinden konnte! Wobei er sich über die „Lage“ nicht mal sicher war. Seinen Blindenstock ausgeklappt tastete er sich einem linden Luftzug folgend zur Tür. Wo…? „Schon fertig?“, Detorix legte sich seine Hand auf den Unterarm, dirigierte ihn aus der Umkleide, „Schiebetür, Obacht.“ „Wir gehen erst mal was essen“, beschied er, „kannst du in den Schlappen laufen?“ „Es geht“, murmelte Phileas, der an geschnürtes Schuhwerk mit dicken Sohlen gewöhnt war. „Gut. Ich habe zwar einen Teil deiner Habseligkeiten und Klamotten einkassiert, aber sie sind für das Klima hier nicht gerade geeignet. Außerdem fällst du damit auf wie ein bunter Hund“, grummelte der Szenarize. „Mit schwarzen und weißen Sachen?“, konterte Phileas ironisch, sammelte seinen Kampfgeist. „Genau, Naseweis, vor allem Menschenklamotten“, schnaubte Detorix, klang jedoch nicht so bissig wie zuvor. Er führte Phileas aus einem Gebäude ins Freie. Warme Luft, Sonnenstrahlen, fremde Gerüche, Gelächter und Unterhaltungen auf Daimonisch. „Wir gehen nicht weit. Ich habe zwei Plätze unter einem Sonnensegel reserviert. Erst mal musst du essen und trinken, Kamerad, während ich Antworten liefere. Fall’ mir bitte nicht um, sonst werden eine Menge Leute ausgesprochen ungehalten mit mir sein.“ Das klang so grämlich, dass Phileas unwillkürlich schmunzelte, auch wenn ihm gar nicht danach zumute war. Er registrierte in seinen Kniekehlen durch den Hosenstoff aus Pflanzenfasern eine Sitzbank, faltete seinen Blindenstock zusammen und legte die Unterarme auf den Tisch. Detorix orderte auf Daimonisch, so flink, dass Phileas nicht verstand, was ihnen gebracht werden würde. Jemand tippte ihn auf den Handrücken, schob ihm eine Tasse zu. „Danke“, wisperte Phileas, bevor er das daimonische Äquivalent ergänzte. Ein aufmunterndes Zwitschern ertönte. „Woran erinnerst du dich?“, erkundigte sich Detorix unterdessen. „Ich war auf dem Heimweg, wollte noch in den Supermarkt. Erdbeer-Sorbet besorgen“, antwortete Phileas nach kurzem Grübeln. Der Szenarize seufzte profund. „Was ist passiert?“, hakte Phileas entschlossen nach. „Jemand hat auf dich geschossen. Thi-Anh zerrte dich außerhalb einer Pforte über die Dimensionsgrenze. Das hat für ziemlich viel Aufregung gesorgt.“ „Thi-Anh?!“, wiederholte Phileas schrill, ballte die Fäuste, „er war da?! Wo ist er?! Ist ihm was geschehen?!“ Detorix klopfte ihm auf die geballten Fäuste. „Er hat einen so schweren Schock erlitten, dass wir ihn ins Koma versetzen mussten.“ 1w1 Phileas saß im Schatten eines mutmaßlichen Baumes, allerdings nicht allein. Detorix hatte ihn in der Obhut von Daimonen-Kindern gelassen. Das war nach menschlichen Maßstäben vollkommen irrational. Nicht jedoch auf dieser Seite, in dieser Dimension. Kleine Wesen, die er nicht sehen konnte, kümmerten sich engagiert und gutwillig um ihn. Man erläuterte ihm geduldig, wo er sich befand, was es dort gab, wie man es in beiden Sprachen bezeichnete und wie er sich nützlich machen konnte. Daimonen-Kindergärten waren selbstorganisiert. Man übte sich in den Fertigkeiten und Fähigkeiten, die man benötigte. Anleitung und Hilfestellung bei Bedarf gab es durch erwachsene Daimonen. Gerade widmete sich die Schar Kinder praktischen Fragen. Wo sollte Phileas schlafen? Wer zeigte ihm, wie die Abtritte funktionierten? Und die Waschplätze? Wer holte ihn zum Frühstück ab? Was könnten sie zum Abendessen machen? Phileas fühlte sich weniger wie ein gestrandeter, toter Mensch als wie ein neues Daimonen-Kind. „Du musst keine Angst haben“, versicherte ihm eine muntere Stimme, während eine kleine Pfote seine Hand tätschelte, „wir achten hier aufeinander. Das wird alles wieder.“ Phileas grimassierte. „Danke. Ich mache mir Sorgen um Thi-Anh. Wenn es ihm so schlecht geht...“ Jemand kletterte auf seinen Schoß. „Ich kenne die Medis! Die bekommen das schon hin. Inzwischen kannst du uns vielleicht helfen. Weißt du, wie man Erbsen schält?“ „Ich vermute, ich finde es jetzt heraus“, antwortete Phileas und straffte die Schultern. Verzweiflung kam jedenfalls nicht in Frage! 1w1 „Phileas?“ „Hm?“, signalisierte er Bereitschaft, sich mit seinen neuen Freunden auszutauschen. Die Sonnenwärme war verschwunden und die Kinderschar entschlossen, zum Trost und zur Aufmunterung gemeinsam in der kleinen Rotunde des Kindergarten-Areals zu übernachten. Daimonische Eltern/Familien nahmen solche Beschlüsse gutmütig an, brachten Hängematten oder Schlafrollen vorbei. Deshalb lag Phileas auch umringt von Kindern in Hängematten oder auf Schlafrollen, nachdem er gelernt hatte, wie man Abendessen zubereitete, das Geschirr reinigte, sich daimonisch die Beißerchen putzte und letzte Vorbereitungen für den nächsten Tag traf. Auf Wäscheleinen hingen dampfgetrocknete Kittel und Handtücher. „Sind deine Augen nicht in Ordnung?“ Phileas überlegte, wie er antworten sollte. Die Daimonen hier nahmen Kinder ernst, erklärten Sachverhalte, ließen Lernprozesse zu. „Ich habe eine vererbte Augenkrankheit. Achromasie. Das bedeutet, ich kann keine Farben erkennen und ich bin sehr kurzsichtig. Außerdem blendet mich helles Licht so stark, dass es den Zustand verschlimmert“, antwortete er schließlich. „Deshalb also das Band“, konkludierte eine andere Stimme nachdenklich. „Normalerweise trage ich eine vollständig geschlossene Brille“, erläuterte Phileas offen, „sie ist leider zerbrochen. Detorix sagte, es könne etwas dauern, bis Ludmilla für mich passende Augengläser angefertigt hat.“ Wobei er besagte Ludmilla nicht mal kannte! „Das ist aber nicht schlimm, oder? Du hast doch Ultraschwall“, stellte eine muntere Stimme im Rund fest. „Ultraschall?“, korrigierte Phileas verwirrt, „ich? Wieso sollte ich Ultraschall haben?“ „Na, weil du doch ein Vampir bist!“ 1w1 >Was tue ich hier bloß?!<, dachte Phileas, bog den linken Arm über den Kopf, um nicht anzustoßen. Er war sich nicht sicher, welchen Charakter die Höhle hatte. Oder warum er gerade mit einer Schar Daimonen-Kinder, die schon längst die Matten abhorchen sollte, in ihr herumstolperte! „Die Käfer sind in der Lampe“, flüsterte eine Stimme verschwörerisch. Phileas stöhnte leise, klappte seinen Blindenstock zusammen, ging in die Hocke, bevor er mühsam das Band von seinen Augen zupfte. Er blinzelte automatisch in die Dunkelheit, die nur ein schwacher Schimmer aus der Daimonen-Laterne aufhellte. Aus der Nähe erkannte er neugierige, fröhliche Gesichter. Mit Pelzbesatz, Schnurrhaaren, Reißzähnen, Schuppen, geschlitzten Pupillen, Federn, Schnäbeln… kein Fantasy-Streifen hätte vielfältiger sein können. „Oooohhh“, warf die Höhle ein Echo zurück. Bevor Phileas eine Pfote tätschelte. „Weißt du, so schlimm ist es gar nicht. Du bist zwar kein bisschen gruselig, aber sehr nett.“ 1w1 „Verdammte Vampire“, brummte Detorix, schüttelte den Kopf. Phileas grimassierte, während er nach Gefühl Grasstreifen durch ein Strohgitter zog. Ausbessern eines Sonnenschutzes, das ging auch ohne Blickkontakt. „Ich bekomme als untoter Vampir ohne Hauer“, er schnaubte bei dem Zitat, „noch ein paar Mitleidspunkte, vermute ich. Wenn es schon mit Ultraschall nicht klappt.“ Um sie herum wuselten die Daimonen-Kinder, gingen unterschiedlichen Aufgaben nach. Sie besserten ihren Unterschlupf aus, säten in Furchen nach, bereiteten die nächste Mahlzeit vor und zeichneten mit Stäben in eine staubige Fläche. Detorix klappte sein Notizbuch auf, justierte die Lesebrille. Er verzichtete darauf, Phileas zu erklären, dass die Adoption durch eine Horde Daimonen-Kinder einen besseren Schutz als jede Sicherheitstruppe bedeutete. Außerdem erlernte der Ex-Mensch auf diese Weise effektiv die Regeln der Daimonen-Welt. Trotz menschlicher, immanenter Defizite. „Das Friedensgericht wartet mit einer Entscheidung, bis wir alle Informationen beisammen haben“, eröffnete er einen Bericht seiner emsigen Betriebsamkeit. „Ich habe in deiner Bude alles so hergerichtet, als seist du aus privaten Gründen kurzfristig verreist. Bisher hat noch niemand nach deiner Leiche gesucht. Also können wir den Attentäter noch nicht ausfindig machen.“ Detorix knurrte. „Wahrscheinlich dürfen wir ihm auch keinen Scheitel ziehen. Regel Nummer 1“, grollte er. Allerdings sprach nichts dagegen, wenn ein Misserfolg dem Übeltäter zum Verhängnis wurde. Wenn sich die beteiligten, noch nicht identifizierten Parteien gegenseitig ausrotteten. Detorix war nicht gnädig gestimmt. „Du wirst nicht mehr als Mensch zurückkehren können“, eröffnete er Phileas ruhig, der automatisch Lücken im Geflecht ertastete und seine Bastelarbeiten fortsetzte. „Kein Herz, kein Puls“, wies Detorix auf die Veränderungen hin. Phileas‘ Herz, das hatten ihm die Medis erklärt, war von ihnen entfernt worden, damit es nicht zerstört in dessen Brustkorb verrottete. Was ihn, nun, untot antrieb, konnten sie sich nicht erklären, machten jedoch schlicht Magie dafür verantwortlich. Das funktionierte in Einzelfällen bei anderen ja auch, nicht wahr? Detorix seufzte, denn ER konnte in seinen Annalen verzeichnen, dass sich solche raren Exemplare hauptsächlich in seinem Verantwortungsbereich herumtrieben. Der Verkäufer bei Pussys Patisserie (möglicherweise die Kombination Höllenatem eines Tasmanischen Teufel-Daimons mit einer Schocklanze), der tanzende Zombie (irgendwelche infernalischen Drogen) und jetzt Phileas! Wobei man vor Jahrhunderten mehr oder weniger geschickt Isidor von Spangenburg als Instrukteur absichtlich auf die andere Seite befördert hatte. Dummerweise konnte sich inzwischen niemand mehr erinnern, WIE GENAU die Ahnen das angestellt hatten. Ganz komplikationsfrei hatte es sich schon damals nicht abgewickelt. „Das heißt, ich bin tot. In der Menschenwelt“, konkludierte Phileas langsam. „Nicht zwingend“, grätschte Detorix energisch dazwischen, „es besteht lediglich eine nicht geringe Gefahr, dass man dich als tot einordnen könnte, wenn man auf die Idee kommt, dich medizinisch unter die Lupe zu nehmen.“ Phileas zögerte. „Es ist ein Risiko“, stellte Detorix klar, half mit einem Daumen aus, eine Schleife zu binden. Das Daimonen-Kind grinste zahnlückig und zwinkerte ihm zu. „Lass’ es mich so versuchen: als Szenarize kann ich die Pläne deiner Meuchelmörder durchkreuzen, indem ich deine Existenz indiziere. Gleichzeitig sorge ich dafür, dass du nicht aufgestöbert werden kannst. Bürokratisch mittlerweile auch mein tägliches Brot.“ Selbst wenn es eigentlich in die andere Richtung gehen sollte. „Du könntest bei einer der Kanzleien des Großen M anheuern“, offerierte er eine Option. Verblüfft wandte Phileas den Kopf, „Moment mal, es gibt auf der Menschenseite daimonische Kanzleien?!“ Amüsiert schmunzelte Detorix, auch wenn Phileas ihn nicht sehen konnte. „Wir beziehen einen nicht geringen Anteil der sogenannten Wirtschaftskraft aus der Menschenwelt, Kamerad. Natürlich gibt es auch Kanzleien. Wie oft muss man sich persönlich begegnen, hm? Und was kann alles aus der Distanz geregelt werden?“ Phileas überdachte diese Offenbarung einige Augenblicke, bevor er sein Flickwerk wieder aufnahm. „Du musst das nicht sofort entscheiden“, beruhigte Detorix, „allerdings würde es dich aus der Schusslinie nehmen, wenn du kündigst und wegziehst.“ Er verstaute seine Lesebrille. „Ich habe mir die Freiheit genommen, in deinen Unterlagen und deiner Biographie herumzustöbern“, bekannte er ungeniert. An seiner Seite erstarrte Phileas. „Soweit ich das begreife, und du kannst mich gern korrigieren, hängt dieser Mord mit dem möglichen Erbe von deinem Großvater zusammen. Es geht um ein wirklich großes Vermögen. Mir persönlich wäre es ein VERGNÜGEN, das Auffinden deiner Leiche zu verhindern, damit die hinterhältigen Arschkrampen sich gegenseitig ausradieren.“ Ungläubig zuckte Phileas zusammen. Von Detorix war er solche unflätigen Ausdrücke und gnadenlosen Aussagen gar nicht gewöhnt. Der bleckte die Zähne. „Oh, mein Freund, ich bin ein Daimon, der sehr lange in der Menschenwelt lebt. Ich habe mir eine gewisse Flexibilität bei der Auslegung der Regeln angewöhnt.“ „Ich wollte das Erbe nicht. Ich habe kein Interesse an dieser Familie“, stellte Phileas schließlich grimmig fest. „Schön. Ohne Leiche keine Erbschleicherei. Mit dem Erbe kannst du die Mäuse auch für gute Dinge einsetzen“, kommentierte Detorix aufgeräumt, „einigen wir uns darauf, dass ich dich bürokratisch lebendig untertauchen lasse?“ Phileas grimassierte, nickte aber. „Fein, damit kann ich arbeiten. Allerdings wirst du deine Habseligkeiten hier auf die Seite nicht mitnehmen können. Wir können Bekleidung und Accessoires für Auftritte in gemischter Gesellschaft aufbewahren, aber der Rest...“ „...verstehe“, nickte Phileas schließlich leise. „Am Anfang wird es nicht so einfach sein“, tröstete Detorix ruhig, „aber ich versichere dir, es wird besser. Wir haben hier auf dieser Seite keine Elektrizität, wie sie menschliche Geräte und Infrastruktur benötigen. Wenn du dir überlegt hast, was mit deinen Sachen geschehen soll, sag’ es mir. Ich kümmere mich darum.“ Unter der Stoffbinde schloss Phileas für einen Moment die Augen, atmete tief durch. „Danke“, murmelte er. Detorix erhob sich, drückte ihm behutsam eine verspannte Schulter. „Vertrau’ mir: es wird besser. Du bist nicht allein.“ Phileas lächelte schief. Nein, wenn alle Augenblicke ein Daimonen-Kind erschien, ihm etwas erklärte, brachte oder sich nach seinem Befinden erkundigte, konnte er sich gar nicht allein fühlen. „Ach ja, hätte ich beinahe vergessen!“, hörte er Detorix‘ Brummbärbass amüsiert, „Thi-Anhs Eltern werden bald hier sein.“ Vor Schreck rutschte Phileas die Matte aus den Händen. 1w1 >Keine Panik!< >Natürlich nicht, es sind ja bloß die Eltern von Thi-Anh, denen er wahrscheinlich berichtet hat, wie ich mich anfangs aufgeführt habe!< Phileas klatschte sich erneut Wasser an der Pumpe ins Gesicht. Er war noch nie in der Situation gewesen, Eltern vorgestellt zu werden. Wobei Thi-Anh ihn gar nicht vorstellen konnte. Schließlich lag er noch immer im Koma. >Nachdem er deinen Kadaver ungeschützt über eine verdammte Dimensionsgrenze gezerrt hat!<, erinnerte ihn seine innere Stimme unerbittlich. Ohne Thi-Anh wäre er nicht untot, sondern definitiv tot. Der hatte für ihn etwas Unmögliches gewagt, ohne Portal die Grenze zu durchstoßen, mit seiner Phantom-Natur eine temporäre Bresche zu schlagen. Damit handelte man sich massiven Ärger ein, gar kein Zweifel! Der musste jedoch hintanstehen, denn die Daimonen, die hastig zur Lücke geeilt waren, hatten ihm Betäubungspulver ins Gesicht blasen müssen, weil sein gesamter Körper im Schock zwischen unterschiedlichen Graden der Dichte wechselte wie bei einem alten Glühfaden vor dem Kurzschluss! >Na, das ist mal eine Empfehlung für die erste Begegnung mit den Schwiegereltern!<, ätzte seine innere Stimme gnadenlos. Tatsächlich konnte Phileas sich nicht vorstellen, wie Thi-Anhs Eltern ihn als akzeptable Existenz wahrnehmen sollten. Er hatte Thi-Anh auf die Probe gestellt, kujoniert, herumkommandiert, in Verzweiflung gestürzt, emotional verletzt, genötigt, seine Freizeit mit ihm zu teilen, Menschenkleidung zu tragen, alle Regeln zu übertreten… >Und jetzt das Debakel hier! Reife Leistung!< „Geht es dir nicht gut?“, erkundigte sich eine mitfühlende Kinderstimme. Phileas stöhnte unterdrückt. „Ich werde großen Ärger bekommen“, murmelte er, unfähig, sich eine Ausrede auszudenken oder gar, die Frage zu ignorieren. „Hast du was angestellt? Ich gehe mit dir“, versicherte der kleine Daimon, klopfte ihm beruhigend auf einen Oberschenkel. Höher kam er nicht. Unwillkürlich musste Phileas lächeln. Solidarität und Mitgefühl verdiente er nach eigener Anschauung nicht. Aber die Daimonen-Kinder hier verhandelten miteinander, halfen sich, klärten unterschiedliche Standpunkte auf, suchten nach Lösungen. Nach einem Miteinander. „Danke schön. Ich glaube, es ist besser, wenn ich das selbst übernehme“, antwortet er laut, ging in die Hocke und visierte nach Gespür das Daimonen-Kind an, „ich übernehme die Verantwortung für das, was ich getan habe.“ Seine Schulter wurde getätschelt, er spürte die Krallen kaum. „Du machst das, Phileas. Wenn du trotzdem in der Klemme steckst, helfen wir dir.“ Erstaunlicherweise zog Phileas diese Versicherung nicht einen Wimpernschlag in Zweifel. 1w1 Phileas hielt inne, als er glaubte, seinen Namen zu hören. Allerdings klang es so, als gurgele die Person mit Kieselsteinen. „Ja?“, adressierte er die ungefähre Richtung. Jemand zupfte an seinem losen Hemd. „Optime Meribor möchte mit dir sprechen. Ich werde übersetzen“, verkündete eine weitere Stimme in Höhe seiner Hüften mit einem melodiösen Singsang. Eilig durchkämmte Phileas sein Gedächtnis. „Optime“ war ein Ehrentitel, der für besondere Leistungen stand. Richtig, hatte Detorix nicht den behandelnden Medi erwähnt? „Vielen Dank, dass Sie mein Leben...meine Existenz gerettet haben“, setzte Phileas an, neigte leicht den Kopf. Man singsangte, die daimonische Antwort bestand aus Gurgel- und Zischlauten. „Optime Meribor ist sehr froh, dich auf den Beinen zu sehen. Es war eine interessante Erfahrung. Steckschusswunden menschlicher Waffen sind hier rar.“ Bevor er sich bremsen konnte, grummelte Phileas, „ich wünschte, das auch von mir behaupten zu können.“ Zu seiner Beschämung schien das dolmetschende Wesen dies auch so weiterzugeben, denn er hörte einen kollernden Laut, den er erst verspätet als Lachen interpretierte. „Optime Meribor gefällt dein Humor. Wir wünschen uns ein Rätsel aufzuklären“, trällerte der übersetzte Singsang. „Gern, wenn ich helfen kann?“, voluntierte Phileas, der wirklich gern gewusst hätte, WEN er da adressierte. „Wir interessieren uns für deinen körperlichen Zustand. Wir waren überrascht über den geringen Blutverlust. Wir vermuten, dass die Schockwellen bei Übertreten der Dimensionsgrenzen verhindert haben, dass dein Kreislauf zusammenbricht. Wir können uns allerdings nicht erklären, wieso du keine ernstzunehmenden Schäden erlitten hast.“ Phileas hielt den Verlust eines organischen Herzens für einen durchaus wesentlichen Abgang von der Inventurliste seines physischen Daseins. Er erkannte jedoch an, was Detorix ihm erklärt hatte: durch die Wunde eingeschleuste daimonische Insekten hatten vertilgt, was totes Gewebe war. Das hatte ihn offenkundig nicht umgebracht. Respektive beeinträchtigt. „Ich weiß es auch nicht. Ganz ohne Herz oder Hilfsmittel dürfte ich ausschließlich tot sein“, antwortete er leicht ironisch. Eine kurze Debatte folgte, die er nicht verstand. „Optime Meribor hält das auch für zutreffend. Wir haben dein Blut getestet, da es ohnehin aus der Wunde austrat. Wir sind überrascht, dass es nicht dem entspricht, was in der Menschenwelt üblich ist.“ Diese Aussage verwirrte Phileas. „Mit meinem Blut stimmt was nicht?“, erkundigte er sich perplex. „Das ist korrekt. Wir würden davon abraten, in menschlichen Instituten Blut abzugeben“, singsangte der dolmetschende Daimon munter. „Also, das ist mir nicht bekannt“, stutzte Phileas verwirrt, „soll das heißen, ich war schon vorher nicht mehr...vollständig menschlich?!“ Er lauschte einem weiteren Diskurs, der ihm unverständlich blieb. „Optime Meribor fragt, ob du engen Kontakt mit unserer Welt hattest.“ >Wie sollte ich?! Menschen kommen hier doch bloß tot rüber!<, grollte Phileas innerlich. Er kannte diese Welt nur von Thi-Anhs Schilderungen und den wenigen Begegnungen mit anderen Daimonen oder Exilierten…! „Der Kräuteraufguss!“, platzte er spontan heraus, ballte die freie Faust, „Thi-Anh hat Kräuter mitgebracht, die ich gern als Tee getrunken habe!“ Das löste, nach einer kurzen Übersetzung, eine lebhafte Debatte aus. Zwitschern, Kieselkollern, Zischen, Kolken. „Optime Meribor würde gern wissen, welche Kräuter das waren.“ Seufzend zuckte Phileas mit den Schultern. „Das kann ich leider nicht beantworten. Thi-Anh hat sie als fertige Mischung von Jezabel bekommen. Der Ex-Dschinnya, die auch über die neue Pforte ausliefert“, gab er alle Informationen zu Protokoll, die ihm in den Sinn kamen. „Soll das bedeuten, dass ich eigentlich schon teilweise ein Daimon war, bevor ich hier gelandet bin? Was ist dann mit der MAGIE?“, hakte er nach. Eine Klaue tätschelte seine freie Hand. „Optime Meribor vermutet, dass es ein glücklicher Umstand war. Selbstverständlich bleibt es bei Magie. Wie sonst hätte sich alles zusammenfügen können?“ 1w1 Abgelenkt von seiner berechtigten Sorge vor dem ersten Zusammentreffen mit Thi-Anhs Eltern kontemplierte Phileas den Austausch medizinischer Erkenntnisse. Zugegeben, man konnte und wollte vermutlich nicht testen, was passierte, wenn ein (noch lebendiger) Mensch die Dimensionsgrenze passierte. Oder was regelmäßig folgte, wenn das Herz mit einem Kleinkalibergeschoss getroffen wurde und man vorher intensiv über längere Zeit daimonischen Kräutertee konsumiert hatte. Abgesehen davon, dass man außerhalb von Portalen Dimensionsgrenzen durchbrach, Phantom-Fähigkeiten hin oder her. Phileas stapfte, den Blindenstock im Einsatz, auf und ab. Glücklicherweise ging eine sanfte, stete Brise und die Wärme blieb angenehm, trotz der zwei Sonnen. Thi-Anh konnte nichts davon vermutet haben. Trotzdem. Trotzdem hatte er es gewagt. >Wenn seine Eltern mir eine Tracht Prügel verabreichen, habe ich mir die redlich verdient<, dachte Phileas gequält. Thi-Anh hatte viel zu viel riskiert, war zu generös, zu nachsichtig, zu hilfsbereit, zu liebenswert… „Ich habe das nicht verdient“, murmelte Phileas grimmig. Wie sollte er das gutmachen? Wie JEMALS einen so anständigen, selbstlosen, liebevollen Charakter entwickeln?! In seine Selbstzerfleischung drängte sich eine Stimme, die Englisch mit einem merklichen Akzent sprach. „You‘re Phileas, the darling-vampire of our son?“ 1w1 >Ach du meine Güte<, schoss es Phileas wieder und wieder durch den Kopf. Thi-Anhs Eltern waren furchteinflößend. Zunächst verständigte man sich auf Englisch als Verkehrssprache, da Phileas‘ Daimonisch noch nicht gut genug war und Thi-Anhs Eltern Deutsch nicht beherrschten. Thi-Anhs Mutter führte das Wort und Gespräch, wobei Phileas sich fragte, ob sie überhaupt Luft holen musste. Offenkundig ging das bei Phantomen auch ohne! Unbeeindruckt von den sanften Interventionsversuchen ihres Lebensgefährten interviewte sie Phileas auf Basis der offenkundig sehr ausführlichen Erklärungen ihres Sohns. In Sachen Vampir! „Ich versichere, dass ich kein Vampir bin“, versuchte Phileas verzweifelt, das seltsame Missverständnis auszuräumen. „Ja, ja, mein Lieber, ich weiß, die fehlenden Hauer! Das ist doch nicht so schlimm“, sie tätschelte nachsichtig seinen Handrücken, „auch ganz überflüssig, nicht wahr?! Wenn du doch gar kein Blut trinken musst.“ Phileas holte Luft, um eine notwendige Korrektur anzubringen. Er kam nicht dazu. „Also, sonst, ich finde, da machst du dich sehr gut! Wirklich! Oh, wo habe ich nur meine Liste?!“ Man kramte hörbar, es raschelte. Unterdessen raunte eine dunklere Stimme leise an sein Ohr. „entschuldige bitte. Das sind diese Vampir-Romanzen.“ Thi-Anhs Vater wagte sich tapfer ins Gefecht, im Tonfall eines verständnisvollen, aber auch hilflosen Lebensgefährten angesichts einer überbordenden Leidenschaft. >Vampir-ROMANZEN?!< „Ah, hier!“ Papierblättern. Phileas schwante Ungemach. Sollte er erneut darauf hinweisen, dass er weder fiktiv noch real ein Vampir war?! Dass es sich nicht um missverständliche Bescheidenheit handelte, weil er keinen Satz nadelspitzer Eckzähne oder Ultraschall-Wahrnehmung besaß? „AHA! Also, groß gewachsen, stimmt. Blasser Teint, passt. Schwarze Haare, richtig. Fingernägel… ich mochte diese Krallen-Version nie! Brrr!! Deine Variante gefällt mir viel besser!“ „Möglicherweise ist das eine Verwechslung mit Nosferatu?“, wagte Phileas einen Einwurf. Der hatte diese überlangen Krallen im Schwarzweißfilm präsentiert… „Fingernägel sind ja optional“, wurde sein Einwand abgefertigt, „sehr gute Figur, check! Klassische Gesichtszüge, korrekt. Hmm, also, die Bekleidung...“ Phileas seufzte. „Detorix hat meine Anzüge in Verwahrung“, brummte er mit einem Anflug von Galgenhumor, „Gehrock, Weste und Kniehosen samt Umhang wären hier auch fehl am Platz, nicht wahr?“ „Du sagst es! Hat uns aber sehr gefallen, das, was du am Valentinstag getragen hast! Äußerst passend!“, ignorierte Thi-Anhs Mutter seine Anstrengungen, sich als un-vampirisch zu entlarven. „Du kannst dich wohl nicht im Fledermäuse auflösen, oder?“, Zweifel schwangen mit. „Definitiv nicht“, Phileas schüttelte entschieden den Kopf. Käme jetzt der Ultraschall als nächster Punkt auf der Liste? Meine Güte, wie hatte er den Einfluss der Vorträge der „Kultur-Attachés“ unterschätzt! „Dachte ich mir. Nicht wahr, Liebling, das habe ich gleich gesagt“, half Thi-Anhs Mutter energisch dieser Option ab, „wie soll das auch funktionieren?! Da stimmt doch das Verhältnis der Massen gar nicht! Und wir müssen das schließlich wissen, richtig?! Immerhin gehört das zu unserem Geschäft, Auflösen, Verdichten, so als Phantome!“ Thi-Anhs Vater schien ihr stumm beizupflichten. Heftig kratzte etwas über Fasern. „Ha! Fledermäuse, so ein Quatsch! Ich wette, dass du keine Probleme hast, fließendes Wasser zu queren, oder?“ „Nein, habe ich nicht“, murmelte Phileas erschlagen, bevor er sich zusammennahm und eine Attacke einleitete. „Allerdings kann ich wohl kaum ein Vampir sein, wenn ich kein Herz mehr habe! Üblicherweise werden die doch gepfählt, oder nicht?“ Bei ihm würde jetzt jeder Holzpflock auf Leere stoßen! „Ach, bah! Dein Kopf ist ja auch noch dran, richtig? Wahrscheinlich lag es nur an dem unhygienischen Holz! Immerhin, wenn da Metallspieße genutzt wurden, hat das nichts außer hässlichen Löchern im Hemd hinterlassen, oder?“, konterte Thi-Anhs Mutter lässig. „Das ist wahrscheinlich wie dieser Humbug mit Weihwasser und Kruzifixen! Ich sage, das lag nur an der mangelhaften Qualität! Brrr, ich mag gar nicht daran denken, was da alles drin war oder dran klebte! Dazu noch verstaubte, trockene Knoblauchknollen! Allergie-Beschleuniger, ganz ohne Zweifel!“ Phileas hängte seinen Unterkiefer wieder ein. Ausgeschlossen, dass er bei dieser Diskussion gewann, ganz gleich, wie viele Stiche er setzte! Thi-Anhs Mutter strahlte derart viel Leidenschaft und Überzeugungsgabe aus, dass er sich schachmatt gesetzt fühlte. Ganz egal, was die Logik ihm eingab. „Du kannst wohl niemanden hypnotisieren, hm? Ich mag deine Stimme sehr gern, aber ich hege Zweifel. Weißt du, das kommt mir immer ein bisschen wie Scharlatanerie vor“, wurde ihm unterdessen vertraulich offenbart. „Möglicherweise habe ich Leute bei juristischen Diskursen eingeschläfert“, gab Phileas selbstironisch zu, „doch das würde ich nicht gelten lassen.“ „Ich auch nicht!“, pflichtete Thi-Anhs Mutter ihm bei, zupfte an seinem Hemd. „Sag’ mal...“ „Liebes, das ist möglicherweise etwas aufdringlich...“ „Ich bin eben wissbegierig! Er trinkt kein Blut, hat keine Hauer und kann auch nicht fliegen. Also sollte er doch wenigstens bedrohlich sein!“ „Es ist aber sehr persönlich...“ Phileas unterbrach teils amüsiert, teils auf ganzer Linie besiegt den flüsternden Austausch. „Soll ich mal die Augenbinde abnehmen?“ 1w1 Dass man unter einer Decke stecken konnte mit den Schwiegereltern hatte sich Phileas nicht so...real vorgestellt. Tatsächlich hockten sie gerade unter einer großen Plane, um möglichst viel Licht abzuschirmen. Thi-Anhs Eltern studierten ihn neugierig, freundlich-verlegen. Er erkannte in Thi-Anhs Vater dessen sanfte Nachsicht, den humorvollen Zug um den Mund. Von seiner Mutter hatte Thi-Anh entschieden das unverstellte Interesse an anderen und die Begeisterungsfähigkeit geerbt. „Also...“, sie räusperte sich, während Phileas wieder den Stoffstreifen in seinem Nacken verknotete. Er ahnte, was kommen musste, konnte nur mühsam ein Grinsen bezwingen. „Liebes…!“ „Ja, nun, Schatz, jemand muss es ihm doch aber sagen! Hör’ mal, Phileas, es wird dich vielleicht bekümmern, aber… du bist KEIN BISSCHEN gruselig!“ Phileas nickte, kämpfte mit entgleisenden Gesichtszügen. Und verlor. Er brach in erleichtertes Gelächter aus. 1w1 „Du schlägst dich trotzdem ziemlich gut“, versicherte Thi-Anhs Mutter ihm, nachdem sie als Trio dem Lachanfall gefrönt hatten, „du erfüllst nach MEINER Liste die wichtigen Punkte!“ „Es wäre auch nicht schön, wenn du gruselig wärst“, ergänzte Thi-Anhs Vater ermutigt, „unser Sohn mag diese neumodischen Horror-Geschichten nicht sonderlich.“ Phileas seufzte. Ja, natürlich musste er auch Hörspiele laufen lassen, die Thi-Anh Unbehagen bereiteten! Um ihn ein bisschen zu necken und seine Arme als Zuflucht anzubieten. Wirklich, er hatte Thi-Anh ganz und gar nicht verdient! „Es tut mir sehr leid, dass er meinetwegen so viel durchmachen muss“, entschuldigte er sich bedauernd, „ich bin ihm kein guter Freund und Partner gewesen.“ „Das stimmt so nicht“, widersprach Thi-Anhs Vater ihm bedächtig, „er hat uns erzählt, wie ihr zusammenlebt, gemeinsam kocht, was ihr unternehmt. Dass du für ihn auf deinem elektrischen Bass gespielt hast. Er hat dich wirklich ins Herz geschlossen, Phileas.“ „Ich wünschte nur, der Preis, den er jetzt zahlt, wäre nicht so hoch“, antwortete Phileas grimmig, „ich laufe hier zwar untot, aber auf Magie herum, während er im Koma liegt! Er hat sein Leben riskiert, um mich zu retten. Wie soll ich das jemals gutmachen?“ „Gutmachen?“, Thi-Anhs Mutter kniff ihn schneller in die Nasenspitze, als er die Annäherung trotz seiner trainierten Reflexe registrieren konnte, „mein Lieber, wo ist dein Mut geblieben?! Du bist hier, frisch und munter, also wirst du noch jede Menge Gelegenheit bekommen, mit unserem Sohn ein schönes, erfülltes Dasein zu erleben!“ „Er liegt im Koma!“, platzte Phileas heraus. „Nicht mehr lange“, konterte Thi-Anhs Mutter unbeeindruckt, „und wenn er aufwacht, wirst du dich um ihn kümmern müssen!“ Das klang nach einer Drohung. „Oh ja, das wird kein Spaß“, seufzte Thi-Anhs Vater, „beim letzten Mal hat er ganze zwei Wochen gejammert und gestöhnt!“ Phileas fehlten die Worte. „Muskelkater“, erläuterte Thi-Anhs Vater, der die Fassungslosigkeit richtig einstufte, „zumindest so ähnlich. Damals war er wirklich sehr unleidlich.“ „Damals?“, wiederholte Phileas ungläubig. „Ja, ist schon eine Weile her“, Thi-Anhs Mutter tätschelte ihm den Handrücken, „er war ungefähr Zehn. Hat sich selbst unter Druck gesetzt, weil er seine Phantom-Fähigkeiten nicht kontrollieren konnte. Wir haben ihm zwar gesagt, dass das dauert, eine Lernphase ist, aber der kleine Sturkopf wollte nicht warten.“ „Manchmal will er zu viel und ignoriert seine Grenzen“, bestätigte Thi-Anhs Vater mitfühlend, „da hilft dann nur die physische Bremse.“ „Deshalb sind wir auch hier“, Thi-Anhs Mutter schnaubte, „das Flackern gibt sich wieder. Wichtiger ist, ihm ordentlich den Marsch zu blasen, dass er sich nicht übernehmen soll. Wer könnte ihm sonst den Kopf zurechtsetzen, wenn nicht seine Eltern?!“ 1w1 Phileas saß unbehaglich und unruhig auf einem Hocker unweit des veritablen Bettgestells, auf dem Thi-Anh seinen Dornröschen-Schlaf pflegte. Seine Eltern hockten rechts und links auf der Matratze. Außerdem hielt sich Optime Meribor bereit, wenn die Wirkung des Stimulanz endgültig gegen das künstliche Koma gewann. Phileas sorgte sich, weil er nun ohne Ablenkung Gelegenheit hatte, die jüngsten Erkenntnisse einzuordnen. Offenkundig gab es ausschließlich über die eingerichteten Portale eine sichere Verbindung zwischen den Welten respektive Dimensionen. War man vermessen oder ignorant genug, die Demarkationslinien anderswo zu übertreten, ähnelte das Ergebnis metaphorisch gesprochen dem „Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs.“ Oder, wie Detorix formulierte, „Eimer und Wischmopp, wobei man nicht viel zu feudeln hat.“ Diese physikalischen Regeln galten auch für Phantome. Warum hatte Thi-Anh kein Portal genutzt? Glaubte Phileas Thi-Anhs Eltern, hatte dessen Ehrgeiz oder auch ausgeprägtes Verantwortungsgefühl dafür gesorgt, dass er die Phantom-Fähigkeiten bis aufs Äußerste erprobt hatte. Er konnte alles gleich welcher Dichtigkeit durchdringen. >Warum?<, fragte sich Phileas nervös, >warum hast du das riskiert? Ich war tot, Thi-Anh. Hätte ein Portal nicht genügt?< 1w1 Ein Ächzen. Phileas schreckte hoch. „Mama? Papa?“, krächzte Thi-Ahn heiser. Es klang so kindlich, so verstört und verloren, dass Phileas einen heftigen Stich verspürte. Er konnte das schrankenlose Vertrauen, die innige Verbundenheit spüren, die in diesen zwei Worten für Thi-Anh lagen. „Ja, Schätzchen, da sind wir. Du hast uns alle ganz schön auf Trab gebracht“, lachte Thi-Anhs Mutter betont launig. „Habe ich?“, wiederholte Thi-Anh verständnislos, hustete leicht. Phileas spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte, verdichtete. Ging es Thi-Anh nun wie ihm beim Aufwachen? Dass langsam die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse einsetzte? „...Phileas“, wisperte Thi-Anh tonlos. „Ich bin hier, Thi-Anh“, hastig kam Phileas auf die Beine, visierte nach Gehör, „mir geht es gut!“ Das konnte man wohl von Thi-Anh nicht mehr behaupten. Hektisches Luftholen, Schluchzen. „Nicht doch, Schatz! Bleib’ schön bei uns!“, drängte Thi-Anhs Mutter besorgt. Phileas registrierte einen leichten Schubs, schob sich über die Bettkante gelehnt vor und bekam Thi-Anh zu fassen. Teilweise zumindest zog er in dieser gebückten Haltung seinen Lieblings-Daimon in eine Umarmung. Und teilweise hielt er Leere umklammert! „Ohohoh“, seufzte Thi-Anhs Vater, „Phileas, stillhalten!“ Ein Sprühstoß zischte zielgerichtet an Phileas vorbei. Zwei keuchende Luftstöße später sackte Thi-Anh bewusstlos und ganzkörperlich schwer in Phileas’ Umarmung zusammen. 1w1 „Ja, nun, das lief doch schon mal recht gut“, konstatierte Thi-Anhs Mutter aufgeräumt. Nicht gerade das Resümee, das Phileas gezogen hätte. „Ich werde mal diskutieren, was wir nicht ausprobieren müssen, weil es schon beim letzten Mal nicht geholfen hat“, verkündete sie, tätschelte Phileas beiläufig am Arm. Phileas hielt Thi-Anh noch ein wenig im Arm, bevor er dessen schlaffe Gestalt auf die Matratze sinken ließ. „Ich bin wirklich kein Vampir!“, platzte es aus ihm heraus. „Nein, bist du nicht“, pflichtete Thi-Anhs Vater ihm ruhig bei, zog den Hocker heran, damit Phileas dort wieder Platz nehmen konnte, „du bist in deiner Welt gestorben.“ Was Phileas immer noch zu verinnerlichen Mühe bereitete. Wie sollte man sich auch vorstellen, NICHT zu sein?! „Ich habe nicht damit gerechnet, dass so etwas passiert!“, rang er mit sich, „ich wollte nichts mit meiner Familie zu schaffen haben!“ Hätte er nicht so stur darauf bestanden, wäre ihm die Gefahr aufgefallen? Das erste Mal in seinem Leben, dass er sich wirklich eng an eine andere Person anschloss, und SO ging es aus?! „Ich war Buchhalter“, erzählte Thi-Anhs Vater nach einigen Momenten angespannten Schweigens. Phileas merkte auf, unsicher, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln würde. Ohne die quirlige Energie von Thi-Anhs Mutter bekam er unwillkommen gründlich Gelegenheit, in sich zu gehen. „Es ist nicht so, dass Phantom-Fähigkeiten verpflichtend ausgeübt werden müssen“, setzte Thi-Anh ruhig fort, „allerdings gibt es nicht viele Phantome. Meine Frau war schon immer an der Menschenwelt interessiert. Das ist dir wohl nicht entgangen, hm?“ In der angenehmen Stimme mit dem Akzent lag ein Schmunzeln, das Phileas erwiderte. „Deshalb bin ich auch in den Sicherheitsdienst gewechselt. Man muss immer zu zweit sein, als Mindestgröße. Damit man sich helfen kann, unterstützen und austauschen. Mentale Hygiene ist notwendig“, erläuterte Thi-Anhs Vater bedächtig. Phileas richtete sich auf. Vermutlich konnte man das „Aber…?!“ seiner Körperhaltung ablesen. „Thi-Anh hat eine Ausnahmegenehmigung bekommen. Seine Fähigkeiten sind so ausgeprägt und sein Wunsch, zu helfen, sich damit nützlich zu machen, so groß, dass man es erlaubt hat.“ Es klang nicht so, als teilte Thi-Anhs Vater die Auffassung uneingeschränkt. „Wir haben ihn immer dazu gebracht, sich bei uns zu melden, mit uns über seinen Alltag und die Erlebnisse zu sprechen. Damit er sich nicht übernimmt, weißt du? Es ist nicht leicht, eine gewisse Distanz aus Eigenschutz zu bewahren. Wir können uns verdichten und auflösen, ja, aber die eigene Seele, das Ich, das kann zerbrechen.“ Phileas schluckte trocken, wartete ab, ob ihm eine Einlassung abverlangt werden würde. Nur allzu bewusst erinnerte er sich daran, wie selbstherrlich er bestimmt hatte, dass Thi-Anh mit ihm leben sollte, seine Freizeit mit ihm verbrachte. „Ich erzähle dir das, Phileas, weil ich glaube, dass Thi-Anh an dem Punkt ist, wo er sich überdenken muss. Wir sind froh, dass du ihm ein Lebenspartner geworden bist, dem er sich anvertrauen kann“, eine Hand touchierte behutsam Phileas’ Oberschenkel. „Es gibt keine Verpflichtung, Phantom-Fähigkeiten zu nutzen. Die wichtigste Regel lautet, so viele glückliche Momente im Leben zu finden, wie man nur kann.“ 1w1 Phileas überließ es Thi-Anhs Mutter, mit Optime Meribor die nächsten Schritte zu besprechen. Er hatte den Eindruck, diese Geschäftigkeit würde ihr helfen, die Bestürzung zu überwinden, die Thi-Anhs Reaktion hervorgerufen hatte. Vorgesehen war, die Dosis der Betäubungsmittel langsam zu reduzieren, um Thi-Anh wieder Schritt für Schritt in die bewusste Gegenwart zu holen. Das würde, aus leidiger Erfahrung, dazu führen, dass ihn vermutlich Übelkeit, Brechreiz, Schwindelgefühl und Migräne plagten, Symptome der abklingenden „Phantom-Krankheit“. Bis er wieder die volle Kontrolle über seine Fähigkeiten zurückgewonnen hatte. „Lief eher mittelprächtig, wie?“ Phileas, der einen Augenblick in der Wärme beider Sonnen genoss, wandte den Kopf, als Detorix ihn adressierte. Phileas seufzte. Unvermittelt schob sich eine kleine Pfote in seine freie Hand. Natürlich, kaum befand er sich vor dem Medi-Zentrum, wusste er seine kleinen daimonischen Kinder-Schutzengel in der Nähe! „Lass’ uns mal ein lauschiges Plätzchen suchen, Kamerad. Ich habe Neuigkeiten“, verkündete Detorix aufgeräumt. Mit einer rasch wachsenden Entourage und Thi-Anhs Vater im Gefolge ließ sich Phileas dirigieren. „Es wird dich vermutlich nicht überraschen, dass man versucht hat, in dein Appartement einzubrechen“, startete Detorix, von einem merklichen Odeur de Pfefferminz umweht. „Damit war wohl zu rechnen“, murmelte Phileas, „ist es sehr schlimm?“ Auch wenn ihm sein Einzimmer-Appartement wie eine entfernte Erinnerung erschien. „Tsktsk!“, schnalzte Detorix nachsichtig mit der Zunge, „ich habe natürlich Sicherheitsvorkehrungen getroffen, mein Guter! Niemand kam herein, keine Sorge.“ Man ahnte, dass mehr folgte. Detorix enttäuschte die Schar der Interessierten nicht. „Gleich nach dem Alarm meiner freundlichen Daimonen-Hilfsschar habe ich Chise gebeten, sich unauffällig nach Spuren umzusehen“, verkündete der Szenarize zufrieden. Bei den Worten „Chise“ und „unauffällig“ lupfte Phileas eine Augenbraue, auch wenn die Augenbinde dies maskierte. Seine Reaktion blieb dennoch nicht unbemerkt. „Oh, der KANN durchaus unbemerkt agieren“, grinste Detorix amüsiert, bevor er ernst wurde, „natürlich habe ich ihm auch die Umstände geschildert. Wer ohne Vorwarnung andere Leute abknallt, ist bestimmt nicht zimperlich. Aber Chise ist gewitzt.“ Zudem halb Fuchsgeist, halb Kronk, somit in Gänze eine wilde Mischung! „Gut, dass du ein untoter Vampir bist“, bemerkte eine Kinderstimme besorgt, „das wäre bei dem Schuss sonst schlimm ausgegangen!“ Phileas wagte nicht zu widersprechen. Möglicherweise sollte er auf DIESER Seite, bei den Daimonen, seinen Status als „untoter Vampir“ akzeptieren. Die Sorge und das Mitgefühl nähmen vielleicht sonst überhand? Auch Detorix kommentierte diese Bemerkung nicht. „Ich habe einige deiner Kleider und Accessoires mitgebracht“, Phileas hörte ein dumpfes Geräusch, vermutete, dass Detorix ein Gepäckstück tätschelte. „Das sind die Sachen, wo kein Plastik oder Kunststoff oder Metall enthalten ist“, ergänzte der Szenarize. Phileas seufzte innerlich. Reißverschlüsse, Knöpfe, Schnallen: was er in dieser Welt nutzen konnte, war recht wenig, bedachte man, wie menschliche Kleidungsstücke, Schuhe und anderes gefertigt waren. „Danke schön“, antwortete er höflich, zwang sich, nicht matt zusammenzusacken. „Wenn du dich in Schale werfen willst, warte ich. Anschließend machen wir uns gemeinsam zu Ludmilla auf. Deine Augengläser sind fertig.“ 1w1 Phileas nutzte einen rasch abgedunkelten Raum im Medi-Zentrum, um aus der dampfgereinigten Leih-Kleidung in eigene Sachen zu wechseln. Er seufzte. Drei T-Shirts und zwei Sweatshirts, Unterwäsche, eine Jogginghose und kaum genutzte Sisal-Sandalen blieben ihm. Dazu ein Strohhut, immerhin! Alles andere hatte die strenge Prüfung nicht bestanden. Kein Wunder, Anzüge, Hemden, Westen, Schuhe, Mäntel: überall fand sich Kunststoff in der ein oder anderen Variante! Selbst die Metallspange für seine Haare und der Gürtel blieben außen vor. Wollsocken, Wollmütze und Wollschal hätten zwar die Kriterien erfüllt, doch bei der milden Witterung hier würde Phileas sie kaum tragen wollen. Seufzend schlüpfte er in eigene Unterwäsche, die Jogginghose und das T-Shirt. Die Sandalen erfüllten ihn nicht gerade mit Zuversicht. Wenigstens der Strohhut passte perfekt zu Sonnenschein und lässiger Aufmachung! Entschieden klappte er seinen Blindenstock aus. >Courage!< 1w1 Detorix und Phileas erhielten selbstredend Geleit, wie immer, wenn die Daimonen-Kinder ihren Tag strukturierten. Nun hockte Phileas im Laden der Augenglasmacherei von Ludmilla, wartete gespannt, ob er von der Augenbinde erlöst werden würde. Krallen tippten auf seine Hände, „hier, Herr Vampir, die Augengläser. Ich habe sie in ein Band eingefügt. Das schirmt das Licht doch am Besten ab.“ Phileas löste hastig die Augenbinde in seinem Nacken, die Lider geschlossen. Das Band der Augengläser war schmaler gehalten, fühlte sich robust und strapazierfähig an. Die Augengläser selbst waren wie bei den Schwimmbrillen rund um die Augenhöhle leicht gepolstert. Er hätte nicht zu sagen vermocht, aus welchem Material sie gefertigt worden waren. Blinzelnd hob er die Lider an. Vor ihm kauerte ein imposanter...Kauz. Mit einer gewaltigen Brille samt diverser Aufbauten und Ergänzungen. Das Federkleid fluste leicht in der warmen Brise. „Sitzt sie?“, erkundigte sich Ludmilla, der Daimonen-Kauz, aufgeräumt. „Perfekt“, murmelte Phileas eingeschüchtert. „Schau’ mal auf die Tafel, ja? Wir testen, ob es mit der Schärfe geklappt hat“, Ludmilla trat beiseite. Phileas las die daimonischen Schriftzeichen, die Thi-Anh ihm wider das Verbot beigebracht hatte. Was er nicht entziffern konnte, beschrieb er schlicht. „Gut, gut!“, Klauen wischten durch die Luft, Ludmilla war zufrieden, „jetzt noch die Lampe!“ Damit drehte der Daimonen-Kauz eine Laterne auf, schwenkte diese um Phileas’ Kopf. Das Licht erschien ihm zwar grell, doch er konnte es aushalten. „Sehr schön“, Ludmilla nickte zufrieden. „Vielen Dank!“, Phileas lächelte vorsichtig, wandte sich Detorix zu, „ich bin zwar versichert, aber…“ Detorix winkte ab. „Unwahrscheinlich, dass wir die Augengläser über eine menschliche Versicherung abrechnen können, aber keine Sorge, mein Bester. Wir finden schon eine Lösung.“ Damit schwang auch die Erinnerung mit, dass er unter Detorix’ Aufsicht stand. Phileas hing zwar außerordentlich an der eigenen Autonomie, doch gerade fühlte er sich nicht in der Lage, sie vehement zu verteidigen. Auf dieser Seite zählten keine menschlichen Versicherungen, Habseligkeiten oder Ersparnisse! Er war angewiesen auf Wohlwollen und Unterstützung. Ludmilla tätschelte unversehens seine Schulter. „Keine Sorge, Herr Vampir, ich einige mich schon mit Detorix. Bin schon sehr gespannt auf deinen Trick!“, zwinkerte der Daimonen-Kauz mit großen Augen. Phileas ächzte. 1w1 „Ich verstehe die Sache mit dem ‚Trick‘ nicht ganz“, bekannte Phileas hilflos im Kreis der Daimonen-Kinder. Da Thi-Anh noch im Betäubungsschlummer lag, half er beim Zubereiten des Mittagessens. Jetzt, wo er wieder sehen konnte, ging es ihm leichter von der Hand, sich einzubringen. Außerdem gewöhnte er sich rasch an die äußere Erscheinung der Daimonen-Kinder, die er bisher hauptsächlich an der Stimme erkannt hatte. „Na ja, bis jetzt haben alle Ex-Menschen was Interessantes vorgeführt“, wurde ihm wohlwollend erläutert, „Valentejn kann toll tanzen. Malcolm kann sehr gut riechen und hören! Er weiß genau, was für Delikatessen in der Tüte sind, wie viele und mit was du bezahlst!“ Phileas konnte nicht folgen, „aha?“ „Er arbeitet an der Kasse bei Pussys Delikatessen“, folgte die freundliche Erklärung, „er ist blind und hat keine Haare. Nicht mal Schnurrhaare.“ „Auch ein Ex-Mensch“, wurde angesichts Phileas’ anhaltender Verwirrung ergänzt. „Oh“, murmelte Phileas, teilte Schälchen aus. Offenkundig vermutete man, dass Menschen grundsätzlich wenigstens EINE bemerkenswerte Fähigkeit vorzuweisen hatten. Wenn ER sein Publikum nicht mit juristischen Ausschweifungen einschläfern wollte, was blieb dann? „Mist“, murmelte er leise, als ihm eine Eingebung kam. Zu spät wurde er sich der Aufmerksamkeit bewusst, die sich auf ihn richtete. „Du hast einen Trick, richtig?“, triumphierten erfreut mehrere Daimonen-Kinder. „Möglicherweise“, schränkte Phileas ein, „bloß funktioniert der nicht auf dieser Seite. Mein elektrischer Bass muss draußen bleiben“, seufzte er. Seltsam, es tat doch ein wenig weh, diesen aufgeben zu müssen. Ob Detorix jemanden fand, der das Instrument wertzuschätzen vermochte? Als er sich zur Haltung ermahnte, wurde ihm bewusst, dass die Daimonen-Kinder verschwörerisch grinsten. Phileas lupfte fragend eine Augenbraue. „Wir gehen auf Expedition!“, wurde ihm eröffnet. 1w1 Der Mee-Poo (Metropolitan Polis) hockte wie Phileas inmitten der Kinder, die Schocklanze aufgepflanzt. Man beriet sich. Der Weg musste aufgemalt werden. Wer ging mit, wer blieb für die anderen Arbeiten hier? Wie viel Wasser war nötig? Brauchte es Proviant? Eine Laterne, falls es länger dauerte, um den Rückweg auszuleuchten? Phileas hielt sich zurück, bestaunte fasziniert den Umgang der Daimonen-Kinder mit der Herausforderung „Expedition“. Die Kinder mit entsprechender Erfahrung warfen Vorschläge in die Gruppe, man sprach über Für und Wider, malte sich im Geiste die Anforderungen aus. Im Plenum stimmte man sich ab, ohne Führungsfigur, ohne Agitation, ohne taktische Einwürfe zum persönlichen Vorteil. Auch der Mee-Poo mischte sich nicht ein, sondern beließ es bei seiner Hilfe, den richtigen Weg einzuschlagen. Der wurde auf ein Täfelchen mit Kreide notiert, das in der Expeditionsgruppe hin und her wechseln sollte. Rasch wurde Wasser als Proviant abgefüllt, Bekleidung und Laterne überprüft. Anschließend konnte Phileas sich mit fünf wackeren Daimonen auf den Weg machen, um seinen „Trick“ vorzuführen. 1w1 Die Strecke wurde Phileas nicht lang, denn er entschied, sich mehr Alltagswissen anzueignen. Wie wohnten Daimonen eigentlich? Wie kam man an eine Unterkunft? Wie funktionierte das Tauschwesen mit Währung, Waren oder Dienstleistungen? Schließlich konnte er kaum fortwährend im Kindergarten nächtigen. Da er Thi-Anh veranlasst hatte, in sein Einzimmer-Appartement einzuziehen, verfügte der auch nicht mehr über eine feste Adresse. Daimonen, erfuhr Phileas von seinen jüngeren Begleitenden, wohnten so unterschiedlich wie Menschen auch. Es gab Zelte, kleine Häuschen, große Häuser mit Wohnwaben, Zimmer mit Gemeinschaftsräumen oder Wohnungen mit Koch- und Sanitäreinheit. Man lebte in Booten, Höhlen, Grotten, Erdbunkern oder Bäumen. Die meisten Behausungen waren Gemeinschaftseigentum wie auch Wasser oder Erdboden. Was bedeutete, dass man sich einigen musste, einander half beim Bau oder der Unterhaltung. Man tauschte, wenn es zu groß oder zu eng wurde. Das klang in Phileas’ Ohren sehr...utopisch. Andererseits, das rief er sich immer wieder ins Gedächtnis, waren die Daimonen sowie angesiedelte Ex-Göttlichkeiten, Naturwesen und andere Emigrierte, auf eine für ihn nicht erfahrbare Weise mit ihrer Umwelt verbunden. Das hielt offenkundig Egoismen und Raubbau in Schach. Er seufzte innerlich. Wahrscheinlich würde er immer mal wieder unangenehm auffallen, weil ihm dieser besondere Sinn für die Umwelt fehlte. Hoffentlich konnte wenigstens sein „Trick“ für ihn werben! 1w1 „Ich komme ja!“, schimpfte Deposize Kurtinos, stampfte betont seinen Gehstock auf. Er ähnelte im Äußeren ein wenig einer betagten Spitzmaus, angetan mit altmodischen Gewändern, Stehkragen und einer „Pillbox“ auf dem Haupt. Als er vor dem Empfang die bunte Schar entdeckte, zuckten seine Schnurrhaare. „Großer M, seid ihr etwa eine BAND?!“ 1w1 Phileas hatte davon gehört, dass der (für ihn geheimnisvolle) Große M auch Ex-Göttlichkeiten eine Heimat gewährte, die in der Menschenwelt längst vergessen waren. Ihre (von Menschen erdachten) Fähigkeiten (und Verantwortlichkeiten) gingen in der Daimonen-Dimension selbstredend verlustig. Deshalb wurde auch alles einkassiert, was angeblich besondere Kräfte gehabt hatte. Deposize Kurtinos betreute das gewaltige Lager für vorgeblich magische Waffen, Artefakte mit übernatürlichen Kräften und „des annere Gelärsch!“ Ausweislich der zahlreichen Schilder reduzierten sich die Gegenstände auf ihren bloßen Materialgehalt. „Passt bloß auf, dass ihr auf nichts tretet! Und nichts anfassen, verstanden?“, grummelte der Deposize, während er die kleine Expeditionstruppe tatsächlich in ein wahres Labyrinth unendlicher Regale führte. „Eine Garderobe des Grauens“, murmelte Phileas angesichts der unzähligen Waffen. „Alles Plunder“, schnaubte Kurtinos abschätzig, studierte Steintafeln, um den richtigen Weg nicht zu verfehlen, „du bist dieser Vampir, richtig?“ Phileas seufzte, „etwas in der Art.“ „Hab’ mir die irgendwie fieser vorgestellt“, der Deposize schüttelte den Kopf, „aber das kann ja noch kommen, Junior. Mit deinem Trick!“ Dabei kicherte er in sich hinein. Phileas schwante einmal mehr drohendes Ungemach. 1w1 Phileas hatte einen elektrischen Bass gespielt. Zum eigenen Vergnügen, mit Kopfhörern und Plektrum. „Das ist...originell“, brachte er mühsam hervor. Obwohl es nicht einfach zu erkennen war, glaubte er, Deposize Kurtinos feixen zu sehen. „Warte mit dem Spielen bis ich mir die Gehörgänge verplombt habe!“, bestätigte der Phileas’ Vermutung, er traue ihm und diesem Instrument nichts Angenehmes zu. „Wird niemand es zurückverlangen?“, erkundigte sich eines der Daimonen-Kinder. Deposize Kurtinos zuckte lediglich mit den mageren Schultern, tippte mit dem Gehstock gegen den Resonanzkörper. Das aufgebrachte Kreuz aus Kreide rieselte herunter. „Gehen wir lieber an die frische Luft“, verschaffte sich Phileas einen Aufschub, packte den „Hals“. Er hegte beträchtliche Zweifel, eine „Charme-Attacke“ mit diesem Ding starten zu können. 1w1 Eine gewisse Hilflosigkeit konnte Phileas nicht abstreifen. Wie sollte er diesem Ding bloß Basstöne, einen Rhythmus entlocken?! Ein kastenförmiger Resonanzkörper war vorhanden, auch ein langer Stab als „Steg“. Es fehlten jedoch Saiten! Außerdem war er sich gar nicht sicher, ob er sie zupfen könnte, wenn ein Plektrum ausschied. Vor dem Archiv bildete das Expeditionsteam einen Kreis um das ominöse Musikinstrument. „Sind Saiten so was wie Schnüre?“, erkundigte sich ein Daimonen-Kind konzentriert. „Richtig. Man versetzt die Saite in Schwingungen. Abhängig von der Länge der Saite verändert sich der Klang“, murmelte Phileas, der sich vage an Rosshaar erinnerte. Und Katzendärme. Es schüttelte ihn. Draht war sein Mittel der Wahl gewesen, doch mangels Strom und ohne Metallerze auf dieser Seite musste er sich bescheiden. „Wir können unterschiedliche Stricke ausprobieren“, fiel das Votum rasch und einstimmig aus. Wie sollte man auch diesem Ungetüm Wohlklang entlocken?! 1w1 Der Rückweg nahm sich lang aus. Eines der kleineren Dämonen-Kinder, an einen Waschbär erinnernd, tapste tapfer, aber immer wieder stolpernd hintendrein. Phileas blieb stehen und wandte sich herum, ging in die Hocke. „Ich nehme dich Huckepack, ja?“, bot er an. Etwas beschämt nickte der kleine Daimon, schniefte leise. „Dann trage ich dein Instrument“, bot ein anderer an. „Und wir gehen voraus“, teilte sich die Expeditionstruppe rasch auf. „Meine Beine sind nur ein bisschen müde“, hörte Phileas in seinem Nacken. Kein Jammern, kein Wehklagen, kein Quengeln. „Vielleicht können wir alle später die Füße in den Teich hängen“, schlug er aufmunternd vor. Sofort hob sich die leicht gedrückte Stimmung, weil man sich hatte aufteilen müssen. „Wir finden bestimmt passende Saiten-Stricke“, wurde Phileas versichert. Er stöhnte innerlich. >Ja, genau, Herr Vampir, du hast noch ein Konzert zu geben!< 1w1 Als das reduzierte Expeditionsteam eintraf, erwartete sie schon ein Abendessen in großer Runde und diverse Stricke für Phileas’ Bass. Auch Thi-Anhs Eltern gesellten sich dazu, denn Thi-Anh frönte erneut der Dornröschen-Betäubung, nachdem er nur kurz aufgewacht und sich sofort erbärmlich übergeben hatte. Nur Galle, aber in Krämpfen schmerzhaft genug. „Das wird besser“, beruhigte Thi-Anhs Mutter Phileas entschieden, „wir sind auf dem richtigen Weg!“ Den wünschte sich Phileas selbst intensiv herbei, weil er in seinen „Trick“ kein großes Vertrauen setzen konnte. Ein hohler Kasten mit Besenstiel, in dessen drei Löcher er genau drei lange Pflanzenfasern gezogen und auf Spannung gesetzt hatte. >Wenigstens habe ich Publikum!<, dachte er mit Galgenhumor, als sich immer mehr Neugierige einfanden. Sogar Detorix suchte sich einen Sitzplatz, begleitet von einem Arachniden-Daimon mit unzähligen Augenpaaren, der Zigarillos paffte. Phileas hätte durchaus gern ein Wunder erbeten, doch er mutmaßte, dass sein untoter Status bereits alle Reserven ausgeschöpft hatte. Er straffte seine Gestalt energisch. Courage war angezeigt! „Guten Abend zusammen. Ich heiße Phileas, bin ein Ex-Mensch und sollte wenigstens einen Trick beherrschen, wie man mir gesagt hat. Mit diesem Instrument aus dem Arsenal möchte ich die Basslinie meines Lebens vorstellen.“ 1w1 Thi-Anh öffnete die Augen, kämpfte gegen den Brechreiz an. Sollte er es mit einem Schluck Wasser versuchen? In seinen Schläfen pochte es fürchterlich, er registrierte einen Schwindel, der nicht echt sein konnte. Ein Anflug von Panik ließ seine Gestalt flackern wie einen beschädigten Glühdraht. Da spürte er Phileas’ Basslinie, einen tiefen Rhythmus, eine Erinnerung direkt in der Resonanz seiner Gestalt. Für eine kurze Weile gelang es ihm, den vertrauten Melodien zu lauschen, dann überwältigte ihn erneut die Erschöpfung. 1w1 Phileas beendete sein Konzert in einem Zustand dankbarer Verwunderung. Deposize Kurtinos hatten ihnen versichert, dass jegliche Magie oder andere Superkraft alle Gegenstände im Lager verließ. Dennoch konnte Phileas durch das Zupfen der drei Saiten einen verblüffend sonoren Klang erzeugen, so versiert seinen Eingebungen und Vorgaben bekannter Stücke folgen, dass er selbst mit seinem elektrischen Bass keine bessere Figur hätte machen können. Das war außerordentlich erstaunlich! Seinem Publikum gefiel es nicht nur, in Kürze hatte er Mitspielende gewonnen! Eine Jam-Session, Improvisation aus dem Stehgreif. Erschöpft, aber aufgemuntert folgte er „seinem“ Expeditionsteam in der Rotunde auf die Matten. Ja, er war definitiv kein fürchterlicher Vampir, aber man mochte ihn als untoten Ex-Mensch. Das konnte ihn nur zuversichtlich stimmen! 1w1 Nachdem sich Phileas am nächsten Morgen pflichtbewusst seinen Aufgaben in der Daimonen-Kindergruppe gewidmet hatte, nutzte er eine kurze Pause, um nach Thi-Anh zu sehen. Dessen Eltern berichteten ihm amüsiert, dass Thi-Anh ihm tatsächlich zugehört, ihnen ein Lob entlockt hatte und erschöpft wieder eingeschlafen war. „Kann ich etwas für ihn tun? Wie lange dauern die Ruhezeiten?“, erkundigte sich Phileas durchaus enttäuscht. Nicht bezüglich einer Reaktion auf sein Konzert, sondern weil er Thi-Anh wirklich sehr vermisste. Es war keineswegs ausreichend, neben dessen Lager Wache zu halten. „Sie werden kürzer“, versicherte ihm Thi-Anhs Mutter zwinkernd, „vorhin musste er sich nicht mal übergeben!“ Unwillkürlich verzog Phileas die Miene. Wenn DAS der Gratmesser war, hoffte er auf eine beschleunigte Verbesserung der Situation! „Hab’ noch ein wenig Geduld“, bat Thi-Anhs Vater ihn nachsichtig. Immerhin, daran musste Phileas sich erinnern, hatte es beim letzten Mal zwei Wochen gedauert. >Und da hat er auch nicht versucht, Dimensionsgrenzen jenseits der Portale zu überwinden!<, ermahnte ihn sein Gewissen streng. So beließ es Phileas bei einem zärtlichen Kuss auf Thi-Anhs Stirn, bevor er sich wieder seinen Aufgaben im Kindergarten widmete. 1w1 Thi-Anh wollte die Aussprache nicht hinauszögern, auch wenn ihn das Pochen in seinen Schläfen wie Paukenschläge plagte. >Wenigstens muss ich nicht spucken!<, dachte er, ignorierte die Schüssel geflissentlich. Um ihn herum locker choreographiert saßen oder standen die Personen, die über seine berufliche Zukunft urteilten. „Was mich umtreibt, Thi-Anh: wieso hast du kein Portal genutzt?“, erkundigte sich seine Vorgesetzte im Sicherheitsdienst beherrscht. Er glaubte, in ihrer Stimme die Hoffnung auf eine bis dato unerkannte Phantom-Fähigkeit schwingen zu hören. Leider gestaltete sich die Wahrheit ernüchternd. Thi-Anh räusperte sich, bevor er leise antwortete. „Ich weiß es nicht. Ich habe gar nichts gedacht.“ 1w1 „Du kannst dich im Moment ohnehin nur erholen“, Thi-Anhs Mutter tätschelte ihm den wirren Schopf. Phileas nutzte seine neue Brille, platzierte sich ungeniert auf der Matratze direkt neben Thi-Anh. „Suspendierung bedeutet doch nur einen befristeten Aussetzer, oder?“, erkundigte er sich besorgt. Thi-Anh seufzte, kämpfte gegen schwere Lider an. Er fühlte sich vollkommen erschöpft, obwohl er doch gar nichts unternommen hatte! „Ich weiß nicht, Phileas“, murmelte er benommen, verschleppte die Silben. „Das ist okay, gönn’ dir ein Päuschen“, wisperte Phileas, küsste Thi-Anhs Stirn. Er blieb lange genug sitzen, um sicher zu sein, dass Thi-Anh ermattet schlief. „Ich sollte mit Detorix sprechen“, raunte er Thi-Anhs Eltern zu, deren verstohlener Austausch von Blicken ihm nicht entgangen war. 1w1 Detorix lutschte energisch ein Pfefferminzbonbon, deutliches Anzeichen seiner Anspannung. Das hatte Phileas mittlerweile erkannt. „Stecke ich schon wieder in Schwierigkeiten?“, erkundigte Phileas sich, nahm neben Detorix auf einer Bank Platz. „Dein altes Ich respektive ich verhandelt gerade einen Auflösungsvertrag. Außerdem sehe ich zu, dass ich einen Umzug einfädle. Wir lassen dich erst mal verschwinden“, berichtete Detorix, die Stirn unter dem Sonnenhut gekräuselt. „So eilig?“, erkundigte sich Phileas besorgt, nahm beiläufig den kleinen Daimon auf den Schoß, der einem Waschbären ähnelte. „Ich möchte Kollateralschäden vermeiden“, grummelte Detorix brummig, „da treibt sich zu viel Volk herum, das mir nicht gefällt.“ Vor den Kindern wollte er offenkundig nicht in Details gehen. Phileas konnte sich mittlerweile vorstellen, dass die am Erbe interessierten Parteien nicht rasch aufsteckten. „Was bedeutet die Suspendierung?“, wechselte er das Thema, denn auch Detorix war konsultiert worden. Der beäugte das Publikum, da sich nahezu alle Daimonen-Kinder um sie versammelt hatten. „Im Moment kann Thi-Anh ja nicht im Sicherheitsdienst arbeiten“, begann der Szenarize bedächtig, „er muss erst wieder auf die Beine kommen.“ „Das ist aber nicht alles, nicht wahr?“, hakte Phileas nach. Sein scharfer Tonfall weckte Besorgnis auf den sonst so fröhlichen Mienen der Kinder. „Geht es deinem Lieblings-Daimon schlechter?“ „Thi-Anh wird doch wieder gesund, nicht wahr?“ „Können wir helfen?“ Selbst Detorix konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ich gehe fest davon aus, dass Thi-Anh sich ganz erholt“, versicherte er, „wir alle müssen uns dafür ein wenig Zeit geben.“ Phileas verstand durchaus den Wink zu dem, was Detorix nicht ansprach: was die Suspendierung bedeutete. Sollte er hier nachbohren? Er entschied sich, Diskretion den Vorzug zu geben und abzuwarten, ob er Detorix nicht alleine konsultieren konnte. Außerdem gab ihm die Einschätzung von Thi-Anhs Vater Stoff genug zum Nachdenken. >Hatte sich Thi-Anh übernommen?< 1w1 Phileas „jammte“ auch an diesem Abend. Während es in seinem „alten“ Leben sehr herbstlich wurde und der „Altweibersommer“ vorbei ging, folgte hier ein wohltemperierter Tag dem nächsten. Die Abendluft unter den zwei Sonnen blieb lau, es wehte stets eine sanfte Brise und der Alltag dräute nicht mit Hektik und „Hamsterrad“. Sein ungewohnter „Bass“ forderte ihn heraus, so ohne Plektrum, nur mit den Fingerkuppen. Melodien waren ihm nicht vertraut, doch die Improvisierenden halfen ihm launig, sich harmonisch einzubringen. Es erstaunte ihn selbst, wie zuversichtlich er sich fühlte, obwohl er untot, als „falscher“ Vampir, ohne Wohnung oder Beruf mit nur wenigen Kleidern in einer fremden Dimension untergekommen war. Zugegeben, wer rührige Daimonen-Kinder als Schutzengel hatte, konnte sich wirklich nicht beklagen! Auch an diesem Abend würde er Gesellschaft in der Rotunde haben. Zuvor sah er noch einmal nach Thi-Anh. Der schlief, entouriert von seinen Eltern. „Wir werden morgen Vormittag nach Hause aufbrechen“, ließ Thi-Anhs Mutter Phileas wissen. Sein Erstaunen forderte eine Erklärung, „die Reise dauert ein Weilchen, weißt du? Thi-Anh ist hier in der besten Obhut, deshalb können wir beruhigt zurückkehren.“ Phileas nickte entschieden. Richtig, sie waren AUCH im Sicherheitsdienst tätig. Andere würden ihre Einsätze übernehmen, doch das ging ja nicht unbegrenzt. „Ich werde mein Bestes geben, um Thi-Anh zu unterstützen“, versprach er entschlossen. „Das wissen wir“, Thi-Anhs Vater lächelte, „es wird schön, wenn ihr beide uns besuchen kommt.“ Zu seiner Überraschung spürte Phileas eine leichte Röte in den Wangen. Er hatte NOCH etwas zu recherchieren! 1w1 „Worüber grübelst du?“, erkundigte sich ein spitzzahniger Daimon mit gestreiftem Fell und Hasenohren. Er war der Anziehungspunkt jeder kleinen Gruppe, ein Charmeur sondergleichen. „Wie heiratet man hier?“, platzte Phileas ungefiltert heraus. Hauptsächlich seiner Verärgerung über sich selbst geschuldet, weil er sich partout nicht erinnern konnte: etwas Geliehenes, etwas Blaues und sonst?! >Verflixt!<, grollte er sich selbst. „Willst du Thi-Anh heiraten?“, erkundigte sich gleich ein vielstimmiger Chor. Auch an diesem Abend würde er in der Rotunde zur Nachtruhe Gesellschaft haben. „Das möchte ich schon. Ich habe bloß keine Ahnung, wie das hier vonstatten geht“, seufzte Phileas, dehnte und streckte sich. Langsam sollte er wirklich wieder seine mittäglichen Selbstverteidigungsübungen aufnehmen, auch wenn er hier nicht mit Attacken rechnete! „Also, wenn man mag, kann man schon heiraten“, wurde ihm nachdenklich beschieden. „Du kannst es beim Friedensgericht vermerken lassen“, steuerte ein weiteres Daimonen-Kind hilfreiche Informationen bei, „die Vorsitzende vom Friedensgericht hier hast du schon gesehen. Sie raucht die Zigarillos.“ Phileas ächzte. Ach du Schande, war das etwa dieser Arachniden-Daimon neben Detorix gewesen, mit den unzähligen Augen?! „Hättest Du Thi-Anh bei den Menschen geheiratet? So als Vampir?“, erkundigte man sich neugierig. Phileas grinste. Richtig, er war ein netter, wenn auch ziemlich enttäuschender Vampir, ohne „Hauer“, nicht flugfähig und für Ultraschall akustisch nicht empfänglich! „Das hätte ich schon gerne, nur ist Thi-Anh nicht als Person registriert. Man benötigt Nachweise, das man existiert.“ Ein Panorama veritabler Verwirrung entourierte ihn. Schmunzelnd über menschliche Un-Logik für daimonische Gemüter erklärte er einen Ausschnitt der Hintergründe. „Man muss eine Bestätigung darüber haben, wann man wo geboren ist und wer die Eltern sind. Dazu kommt, dass man nur mit einer Person zur gleichen Zeit verheiratet sein darf. Alles wird registriert und nachgeschlagen.“ Das zumindest schien doch auch im Friedensgericht der Fall zu sein. Nahm er an. „Ich glaube, es müssen alle einverstanden sein, die verheiratet sein wollen“, bemerkte ein Daimonen-Kind nachdenklich. „Das klingt sehr vernünftig“, nickte Phileas, „zusätzlich kann man auch noch nach anderen Ritualen heiraten. Nicht nur für die Akten. Da gibt es eine Torte, feine Kleider, Eheringe, eine große Feier, Gelöbnisse und Segnungen…“ Er schnaubte, „leider kann ich mich nicht entsinnen, was üblich ist! Ich habe nicht erwartet, heiraten zu wollen.“ Ein konzentriertes Schweigen senkte sich über die Häupter. „Wir könnten zur Collectio gehen. Da gibt es viele Informationen über die Menschenwelt“, bot sich eine Lösung an. Phileas wusste von Thi-Anhs Erklärungen, dass es sich um eine Art öffentliche Bibliothek handelte, mit allen möglichen Medien, von der Lederrolle über Steintafeln bis zu Büchern auf Papier. Auch jede Menge Exponate in Sammlungen sowie Omniskope konnten nach Einweisung genutzt werden. „Ich glaube, ich sollte erst mal fragen, ob Thi-Anh mich auch heiraten möchte“, bremste er die Planung für eine Expedition aus. Im Rund wurde heftig genickt. „Mit den Ringen bin ich mir auch nicht sicher“, vertraute Phileas seinem kindlichen Kollegium an, „die werden ja nicht unsichtbar. Für ein Phantom ist das wohl nicht praktisch.“ Erneut konzentriertes Grübeln. „Müssen es Ringe sein?“, erkundigte sich eine Banshee zögernd. „Manche Leute tätowieren sich auch“, murmelte Phileas, dem spitze Nadeln nicht sonderlich zusagten, wenn sie in seine Haut gestanzt werden sollten ohne medizinische Notwendigkeit. „Tätowieren?“, das menschliche Wort konnte er nicht in Daimonisch übersetzen, weshalb sie nun eine sprachliche Untiefe ereilte. Also beschrieb Phileas den Vorgang und seine Beobachtungen, was wo lebenslange Spuren hinterließ. Einige kleine Unterkiefer sackten herunter. „Menschen sind merkwürdig“, hörte er flüstern. Spontan entwich Phileas ein Auflachen. „Sehr richtig!“, stimmte er zu, „deshalb heirate ich wohl besser auf daimonische Art. Wenn Thi-Anh mich nimmt.“ „Wir helfen dir“, wurde ihm treuherzig versichert, „außerdem hat er dich auch sehr mächtig doll gern! Du bist bestimmt sein Lieblings-Vampir!“ 1w1 Thi-Anh fühlte sich elend, was auch daran lag, dass er seit seinem Aussetzer nur Tee und Wasser bei sich behalten hatte. Vor allem aber quälte ihn eine Erkenntnis, der er nicht entwischen konnte, auch wenn die Migräne ihn flach auf die Matratze fesselte, die Fingerkuppen ins Material gegraben. Er wusste nicht zu sagen, was ihn veranlasst hatte, Phileas schnurstracks über die Dimensionsgrenzen zu zerren. Richtig, er war für den Sicherheitsdienst ausgebildet, trainiert, die Ruhe zu bewahren, im Ernstfall die Vorgehensweise zu befolgen, die ihnen allen wie ein Reflex eingeprägt worden war. Nie zuvor hatte er auf diese Weise versagt. Es war keine bewusste Entscheidung gewesen. Ein Impuls? Oder ungerichtete Panik? Thi-Anh würgte Speichel herunter. >Ich kann das nicht mehr<, hämmerte in seinen Schläfen. Er konnte keinen Sicherheitsdienst mehr ausüben. Seine Selbstgewissheit war zerstört worden. >Durch mich selbst.< 1w1 Phileas tippte auf Zehenspitzen mit blanken Füßen vorsichtig durch das Nachtlager, um Thi-Anh eine Stippvisite abzustatten. Auch wenn es noch mitten in der Nacht war. Er würde Thi-Anhs Eltern vermissen, so viel stand fest. Ihre Zuversicht hatte ihn beruhigt, verhindert, dass ihn das Geschehen überwältigte. Als er leise das kleine Zimmer betrat, bemerkte er sofort Thi-Anhs verspannte Haltung. „Thi-Anh? Was ist los?“, wisperte er, um niemanden aufzuwecken, huschte im Schein der Lampe mit den rührigen Daimonen-Leuchtkäfern eilig zum Bett. Thi-Anh atmete mühsam, konzentrierte Züge. „Brauchst du ein Schmerzmittel?“, erkundigte Phileas sich, während er schon das Ensemble auf dem kleinen Klapptisch inspizierte. „Bitte“, ächzte Thi-Anh, die Augen zugekniffen. „Kommt sofort“, geübt rührte Phileas aus einem gerollten Blatt ein zerstoßenes Pulver in Wasser auf. Mit dem Äquivalent einer daimonischen Schnabeltasse aus Keramik half er Thi-Anh, die Flüssigkeit zu schlucken. Dann kniete er sich neben das Bett, liebkoste behutsam Thi-Anhs wirren Schopf, tupfte die Tränen ab, die dessen Augenlidern entschlüpften. Endlich atmete Thi-Anh nicht mehr so gepresst. Das Schmerzmittel schien zu wirken. „Danke“, krächzte Thi-Anh, blinzelte, die Wimpern noch feucht. „Gern geschehen“, Phileas beugte sich über Thi-Anh, küsste ihm die Stirn, „ich wünschte, ich könnte mehr tun. Du fehlst mir. Ach, und ich möchte dich heiraten.“ 1w1 Thi-Anh drehte den Kopf leicht. Hatte er sich verhört?! „Heiraten?“, wiederholte er schließlich verdattert. „Ja. Wenn du möchtest.“ Phileas, der misstrauische, selbstsichere, besitzergreifende Phileas, wollte HEIRATEN?! Eine verbindliche Beziehung eingehen?! „...oh“, entwich Thi-Anh benommen. „Ich weiß, ich bin ein falscher Vampir, sehr anstrengend im Umgang und ein absoluter Anfänger in daimonischer Lebensart, aber wenn du darüber hinwegsehen könntest…?“ Schmeichelte ihm Phileas gerade? „Entweder träume ich, oder das Schmerzmittel enthält Drogen“, murmelte Thi-Anh. Halluzinierte er nun auch noch?! Phileas lachte, sein warmer Atem streifte über Thi-Anhs Gesicht. „Dein Humor funktioniert schon wieder“, neckend tippte er Thi-Anh auf die Nasenspitze. Der akzeptierte, dass Phileas ihn TATSÄCHLICH heiraten wollte. Allerdings hatte der ihn gar nicht gefragt. Oh, Moment, wie hieß noch gleich dieses juristische Konstrukt, über das er sich mal ausgelassen hatte?! „Ist das so was wie ein Letter of intent?“, erkundigte Thi-Anh sich, rang mit der Müdigkeit, die das Schmerzmittel als Nebenwirkung auslöste. „Könnte man so sehen“, Phileas küsste ihn sanft auf die Lippen. „Übrigens knie ich gerade an deinem Lager, Dornröschen, da kann ich auch aufs Ganze gehen: Thi-Anh, möchtest du mich heiraten?“, raunte er lächelnd. Thi-Anh löste eine Hand von der Matratze, die er stets beklammerte, als drohe ihm Seekrankheit, haschte nach Phileas’. Der ergriff sie warm, hauchte einen Kuss auf den Handrücken. „Ja, ich möchte“, ächzte Thi-Anh, blinzelte matt, „es wäre allerdings schön, wenn wir in der Vertikalen heiraten könnten.“ Phileas gluckste amüsiert. „Einverstanden“, versprach er, kam auf die Beine, hielt Thi-Anhs Hand, während er halb um das Bett huschte, um sich auf der anderen Seite die Bettkante zum Lager zu wählen. Das war zwar nicht sonderlich bequem, doch Thi-Anhs Gesellschaft würde den kurzen Rest der Nacht aufwiegen! 1w1 Natürlich plumpste Phileas am frühen Morgen über die Bettkante. Er landete nach sehr kurzem Flug jedoch unerwartet weich. Kichern ließ ihn die letzte Müdigkeit abschütteln. „Nanu?“, bekundete er Aufnahmebereitschaft, blinzelte hinter den Brillengläsern, die er nicht abgebunden hatte. „Guten Morgen“, begrüßten ihn nachsichtig einige Kinder. „Guten Morgen“, antwortete Phileas brav, setzte sich auf und blickte sich um. Seine gefederte Landung war einer Art Nest in Matratzenform zu verdanken. „Vielen Dank“, nickte er, rappelte sich auf. Eilig warf er einen Blick auf Thi-Anh. Der schlief so fest, dass er zweifellos betäubt sein musste. „Holt ihr mich zum Frühstück machen ab?“, erkundigte Phileas sich, zupfte rasch sein T-Shirt glatt. „Hast du gefragt? Was hat er gesagt?“, kamen seine Kindergarten-Kumpels sofort zum für sie spannenden Part. „Ja und ja. Allerdings wollte er lieber aufrecht heiraten“, Phileas grinste, rieb sich das Gesicht und seufzte prompt. „Liebe Leute, ich MUSS mich erst frisch machen und rasieren!“ 1w1 Glücklicherweise war Phileas in Nassrasur geübt, sodass zumindest diese Umstellung ihn nicht über Gebühr mit blutigen Spuren zeichnete. Auch wenn es der Übung bedurfte, die scharfe Steinklinge zu benutzen. Vom Publikum ließ er sich nicht irritieren, zu sehr war er schon daran gewöhnt, eine Entourage zu haben. „Vielleicht frühstücken auch Thi-Anhs Eltern noch mit uns? Sie werden heute die Rückreise antreten“, warf er in die Runde. Sofort wurden zwei weitere Gedecke aufgelegt, während ein kleiner Daimon erkundungsfreudig nach den Gästen suchte. „Wir können danach in die Collectio gehen“, wurde Phileas der Plan vorgestellt. „Oh, nicht nur meinetwegen…“, setzte er an, kam jedoch nicht weit. Sorgsam mit daimonischen Schriftzeichen versehen wurde ein längerer Papierstreifen entrollt. Offenkundig gab es mehr, was in Erfahrung gebracht werden sollte! Phileas schmunzelte, als ihm bewusst wurde, wie sehr er daran gewöhnt war, mit wenigen Knopfdruck- oder Wischgesten das Wissen der menschlichen Welt anzapfen zu können. 1w1 Thi-Anh wirkte desorientiert und benommen, als ihn seine Eltern weckten, um sich zu verabschieden. Phileas, der sich im Hintergrund hielt, verspürte Mitgefühl, als er Thi-Anhs waidwunde Miene sah. „Phileas wird gut auf dich achten, mein Sonnenschein, also sorg’ dich nicht! Ich freue mich schon darauf, wenn ihr uns besuchen kommt“, erneut wurde Thi-Anh von seiner Mutter geherzt, bevor sein Vater die Umarmung wiederholte. „Ich werde alles daran setzen“, versprach Phileas, der sich auch an die Worte von Thi-Anhs Vater erinnerte. Durch seine Egozentrik hatte er Thi-Anh vom Austausch mit seinem Eltern abgehalten! Das musste er wiedergutmachen! Thi-Anh sackte ermattet zurück, wirkte so kindlich und zerbrechlich, dass Phileas neben ihm in die Hocke ging, durch den wirren Schopf kraulte. „Wir zwei schaffen das, richtig? Während du ein Päuschen machst, finde ich heraus, wie ich mich hier richtig einlebe. Wenn du aufwachst, bin ich wieder da.“ Thi-Anh winselte leise, die Fingerkuppen mal wieder in die Matratze gedrückt. Rasch beugte sich Phileas über ihn, küsste ihn sanft auf die Stirn, dann die Lippen. „Ich hole noch Medizin.“ Wenn er Thi-Anh die Keramik-Schnabeltasse verabreicht hatte, würde er mit der „Expeditionsgruppe“ zur Collectio aufbrechen. 1w1 Thi-Anhs Eltern begleiteten sie ein Stück, bevor sich die Wege trennten. Sie wirkten in sich gekehrt wie Phileas auch. „Es geht ihm bald besser“, brach Thi-Anhs Mutter mit energischem Ruck das Schweigen zwischen ihnen. Die Daimonen-Kinder hatten sich glücklicherweise nicht daran gestört und ihre eigene Unterhaltung gepflegt. „Wir wissen um die menschliche Bedeutung einer Heirat“, Thi-Anhs Vater tätschelte Phileas’ Unterarm kurz, „es ist schön, dass ihr euch so gut versteht und einander anvertraut.“ „Ich werde mein Bestes geben, Thi-Anh glücklich zu machen“, versprach Phileas ernst. Auch wenn ihm bewusst war, dass er sich dafür noch ordentlich zu strecken hatte. „Ihr beide macht das schon“, Thi-Anhs Mutter zwinkerte, blieb an einer Gabelung stehen und schlang die Arme um Phileas’ Nacken. Der war das zwar nicht gewöhnt, zuckte jedoch nicht zurück, sondern fühlte sich seltsam bewegt. War es so, wenn man eine Mutter, einen Vater hatte? „Passt gut auf euch auf. Ich bin stolz, einen untoten Vampir in der Familie zu haben!“, verkündete sie, lächelte ihn an. Unwillkürlich lächelte Phileas auch. „Danke schön. Ich bin froh, Schwiegereltern zu bekommen. Ich möchte gern zu einer Familie gehören“, antwortete er freimütig. Auch Thi-Anhs Vater umarmte ihn zum Abschied, zwinkerte ihm zu. Die Kinder schienen seine Gemütsbewegung zu spüren, denn sie nahmen ihn in die Mitte und lenkten seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Auf einer Expedition gab es schließlich viel zu lernen! 1w1 „Wa-huu“, murmelte Phileas, als er das Gebäude der Collectio erblickte. Es war beeindruckend, ähnelte in der organischen Gestaltung beinahe einem Schneckenhaus mit Rundläufen als Galerie, Stegen zwischen Türmen, Halbkugeln und Waben. Im Erdgeschoss befand sich ein Auditorium mit Bühne, das ihn an die Überreste der Amphitheater erinnerte. Wenig überraschend fassten sich die Kinder an den Händen, ihn angeschlossen. „Wir suchen uns Collecte“, klärte der kleine Daimon an der Spitze ihrer Kette Phileas auf, „sie kennen sich aus.“ Phileas hielt das für eine gute Idee, denn er zweifelte daran, sich in kurzer Zeit orientieren zu können. Außerdem erstaunte ihn der Anblick der zahlreichen Daimonen und anderen Wesen. Es wirkte auf ihn wie eine wilde Fantasy-Mixtur aller möglichen Genres. Wobei hier gute Laune und keine Hektik vorherrschte. „Kann ich helfen?“, erkundigte sich prompt ein wuseliger Daimon, der Phileas kaum bis zur Hüfte reichte und frappierende Ähnlichkeiten mit einem Stofffrosch aus einer Puppen-Revue hatte. Wenn der einen dreiteiligen Anzug getragen hätte. „Ja, bitte. Wir haben verschiedene Fragen“, die Schriftrolle wurde durchgereicht. Phileas blieb brav in der Kette, hielt Pfötchen bzw. Händchen. Collecte Mitrek wuselte voran, führte sie zu den einzelnen Sammlungen, wo die Daimonen-Kinder selbst die Antworten herausfinden konnten. Eheschließungsrituale befanden sich am letzten Punkt der Liste. Dennoch hielten die Kinder tapfer durch, wofür Phileas ihnen Respekt zollte. „Wenn ihr ein Päuschen machen wolltet..“, bot er an. Schließlich handelte es sich um sein originäres Problem. Collecte Mitrek wippte aufgekratzt vor und zurück. „Verzeihung, aufdringlich von mir, ohne Frage, aber...bist DU der Vampir, von dem alle reden?!“ Phileas grimassierte. „Eine Art Vampir“, murmelte er, „definitiv untot.“ „Oh, faszinierend!“, Collecte Mitrek klatschte in die sehr froschartigen Extremitäten, „erlaubst du eine Skizze?“ Wie hätte Phileas dieses Ersuchen abschlägig beantworten können? Geduldig und stets hilfsbereit hatte Collecte Mitrek ihnen schließlich beigestanden. „Stört es nicht, wenn ich rasch lese?“, gestikulierte Phileas zu den dünnen Tafeln, auf denen in daimonischen Schriftzeichen einzelne „Balzrituale“ der Menschenwelt eingeritzt worden waren. „Liebe Güte“, murmelte Phileas, runzelte die Stirn. Schwüre, Gelöbnisse, Morgengaben, Bekleidung, Schmuck, Bräuche und Sitten… Ihm wurde die Anzahl der Augen bewusst, die ihn neugierig studierten. „...das ist recht kompliziert“, murmelte er verlegen. „Du könntest mit Thi-Anh etwas Eigenes vereinbaren?“, schlug die winzige Banshee mutig vor. Phileas wischte sich einige lange Strähnen auf den Rücken. So langsam gewöhnte er sich wirklich daran, seine Haare offen zu tragen. „Das ist wahrscheinlich die richtige Lösung“, nickte er, „entschuldigt, dass ich euch damit aufgehalten habe.“ Unversehens wurde er um Knie und Hüften beknuddelt. Collecte Mitrek schmunzelte. „Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung? Wir bieten auf jedem Geschoss etwas an.“ Sofort dachte Phileas an seinen Mangel an Finanzen, immerhin war er der Erwachsene! Sie hatten zwar entsprechend den Vorgaben Proviant mitgenommen, aber… „Der Vampir!“, hörte er eine schrille Stimme hinter sich. Hastig flatterte eine Art Schmetterling in Übergröße auf ihn zu. „Herr Vampir? Haben Sie einen Augenblick Zeit?“ 1w1 Phileas runzelte die Stirn, markierte mit der farbigen Kreide ein hauchdünnes Täfelchen. „Das sind aber viele Notizen“, bemerkte der Charmeur der Truppe mit zuckenden Schnurrhaaren und sehr attraktiven Hasenohren. „Tja“, seufzte Phileas grimmig. Der aufgedrehte Daimon hatte ihn hektisch in die Lex-Abteilung komplimentiert, um dort über die Aktualien zu sehen. Während gleichzeitig als „Gruß der Küche“ die Daimonen-Kinder Fruchtgelee serviert bekamen im Austausch für seine Expertise. „Wer kuratiert hier denn?“, erkundigte er sich resigniert bei Collecte Mitrek, der ebenfalls Fruchtgelee schnabulierte. „Eine vertrackte Sache, fürwahr!“, dabei presste er sorgsam seine Skizze, die Phileas signiert hatte, an sich. Die daimonische Variante einer Autogrammkarte. Phileas lupfte eine Augenbraue. „Gerade niemand, muss ich gestehen“, der Collecte schrumpfte ein wenig, „bedauerlicherweise ist die letzte zuständige Person unbemerkt in die Ewigkeit eingetreten.“ „Hier?!“, etwas unbehaglich wich Phileas von der Sammlung an Täfelchen zurück. „Nein, hinter einer Grünpflanze. Die wir entfernt haben. Sie war...speziell“, murmelte Collecte Mitrek. „Mir schwant Übles“, murmelte Phileas, „eine fleischfressende Pflanze?“ Collecte Mitrek sackte das wenig ausgeprägte Kinn herunter, sodass die Ähnlichkeit mit der Frosch-Puppe noch frappierender wurde. Eine Antwort konnte man sich ersparen. „Du hättest nicht rein zufällig Interesse, unsere Sammlung zu betreuen?“ 1w1 Phileas absolvierte einige seiner Kampfübungen in einer freien Nische. Andere pflegten sich die Schläfen zu massieren oder die Nasenwurzel zu reiben. Aufgrund seiner Brille fiel das von jeher aus. Nach eingehender Befragung von Collecte Mitrek war ihm offenbart worden, dass die „Wirtschafts- und Steuerrechts-Abteilung“ schon eine ganze Weile verwaist war. Auch wenn man sich zunächst darüber hatte einigen müssen, welches Zeitmaß genutzt wurde („Hundejahre?! Schildkröten? Menschen? Neuzeitlicher westlicher Kalender?“) Die Pflanze hatte die verstorbenen, nicht untoten Überreste vertilgt. So, wie die Daimonen-Insekten sein verlorenes Herz. Quasi ein Akt der Hygiene. Auch „verdankte“ man dem unbemerkt Verschiedenen die organisatorische Verbesserung, dass man sich tagein, tagaus auf einem Täfelchen eintragen musste. So würden eventuell verlustig gegangene Collecte gesucht werden. Wenn der Herr Vampir eventuell Interesse hätte, die Vakanz auszufüllen…? Phileas fragte sich, ob auf froschähnliche oder schmetterlingsartige Daimonen auch die Beschreibung „Hundeblick“ zutraf. Er hatte sich gerade unter den flehenden Blicken Bedenkzeit erbeten, um nicht in den Sog von Verantwortung, Pflichtgefühl, Dankbarkeit und schmeichelhafter Anerkennung gezogen zu werden. „Ist das ein Tanz?“, erkundigte sich der Waschbär-Daimon beeindruckt. Phileas schüttelte seine Glieder aus. „Dafür ist es nicht gedacht, auch wenn es vielleicht so aussieht“, Phileas ging in die Hocke. Ohne Anzeichen von Ungeduld oder Langeweile leisteten die Daimonen-Kinder ihm Gesellschaft. „Es sind Übungen, um sich zu verteidigen. Gegen einen Angriff anderer Menschen“, erklärte er schnörkellos. „...oh.“ Phileas seufzte, drückte ein Pfötchen tröstend. „Menschen können manchmal sehr fies zueinander sein.“ „Aber sie haben dieses System, nicht wahr? Sie steuern, damit alle ein gutes Leben haben können“, fasste die Banshee Phileas’ vorangegangene Versuche zusammen, Steuerrecht für Daimonen zu erklären. Und warum aus dem Streben nach Gerechtigkeit ein mäanderndes, kaum noch entwirrbares Labyrinth an Regelungen geworden war, um bloß für jeden Einzelfall eine Antwort zu haben. Phileas konnte nachvollziehen, dass die Daimonen von so einer Konstruktion verwirrt waren. Er wandte sich Mitrek zu, der ihn hoffnungsvoll anglubschte. „Tut mir leid, aber ich kann mich noch nicht entscheiden. Szenarize Detorix kümmert sich um mein Rest-Leben auf der anderen Seite. Ich möchte mich mit ihm beraten. Außerdem hat mein Lebensgefährte Thi-Anh auch ein Anrecht auf Mitentscheidung“, vertagte er seinen Entschluss. „Oh, natürlich, ganz recht, völlig verständlich!“, Collecte Mitrek nickte eifrig, „wir würden uns freuen, wenn du unser Angebot in Erwägung ziehst.“ Phileas streckte forsch die Rechte aus, „einverstanden“. Es schien ihm, als hätte nicht nur Thi-Anh Einiges zu überdenken! 1w1 „Es wäre schade, wenn du so schnell weggehst“, stellte eines der Daimonen-Kinder fest, als sie sich auf den Heimweg machten. „Finde ich auch“, murmelte Phileas, erstaunt, wie sehr er sich an die Kinder in der kurzen Zeit gewöhnt hatte. „Allerdings kannst du schon Sachen, die wir in der Schule lernen“, warf ein anderes pragmatisch ein. „Daimonisch in Wort und Schrift muss ich noch besser beherrschen“, konterte Phileas zwinkernd. Überlegen fühlte er sich schon lange nicht mehr. „Außerdem bin ich in den gesellschaftlichen Regeln hier nicht bewandert“, ergänzte er seufzend, „ich bin immer noch zu sehr in der menschlichen Variante verhaftet.“ Er registrierte die verwirrten Blicke. „Ich meine damit den Umgang hier untereinander. Den Gemeinschaftssinn, die Akzeptanz, die Art, wie Probleme gelöst werden“, erläuterte er. „Ich finde, du machst dich ganz gut. Du bist ein SEHR netter Vampir!“ Phileas lachte über dieses Lob und warf nacheinander alle jauchzenden Daimonen-Kinder schwungvoll in die Luft, bevor sie ihren Weg fortsetzten. 1w1 Thi-Anh kam schwankend auf die Beine, als sich die muntere Schar recht spät näherte. Sofort beschleunigte Phileas, der nicht erwartet hatte, Thi-Anh außerhalb des Krankenzimmers vorzufinden. „Ich kann’s nicht mehr!“, brach es aus Thi-Anh hervor, da hatte Phileas ihn auch schon in die Arme geschlossen. Thi-Anh umhalste ihn verkrampft wie eine Rettungsboje in offener See. „Mich heiraten?“, erkundigte sich Phileas, hielt Thi-Anh umschlungen und steuerte einen Hocker an. Er ließ sich nieder und bugsierte Thi-Anh auf seinen Schoß. „Sicherheitsdienst!“, stieß Thi-Anh an seiner Halsbeuge hervor, schluchzte auf. „Verstehe“, murmelte Phileas, wiegte ihn leicht. Leider setzte die „Phantom-Krankheit“ ein, ließ Thi-Anh flackern. Da gab es nur ein Gegenmittel: Phileas kippte Thi-Anh leicht und küsste ihn leidenschaftlich. Schon bald hatte er wieder Thi-Anhs feste, warme Gestalt in den Armen und auf den Oberschenkeln. Als er ihn atemlos freigab, waren sie umringt von Daimonen-Kindern. Eines reichte Thi-Anh einen Becher an. „Ist das Medizin?“, winselte Thi-Anh kläglich, die Wimpern feucht verklebt. „Nur Wasser. Soll ich Optime Meribor holen?“, Pfoten und Hände berührten ihn tröstend. „Danke. Nein, es geht schon wieder“, doch da rollten erneut Tränen. Phileas ordnete sie der Erleichterung nach dem Ausbruch zu, tupfte sie von Thi-Anhs Wangen. „Das ist in Ordnung, Thi-Anh. Du kannst etwas anderes machen. Und ich möchte immer noch gern von dir geheiratet werden“, ergänzte er mit einem aufmunternden Grinsen. Thi-Anh ächzte, blinzelte und grimassierte erschöpft, „das sollten wir schaffen.“ „Schön!“, schmunzelte Phileas, beugte sich vor und wisperte kaum hörbar in Thi-Anhs Ohr, „außerdem vermisse ich unsere Schäferstündchen sehr.“ Selbst ihm stieg Röte in die Wangen, dies umringt von Kindern zu flüstern. Thi-Anh wollte antworten, doch ein grollendes Geräusch kam ihm zuvor. „Oh je, braucht du die Schüssel?!“, alarmiert blickte Phileas sich um. Sich den flachen Bauch reibend seufzte Thi-Anh verlegen. „Nein, ich habe bloß Hunger.“ 1w1 Ob es der letzte Abend gemeinsam in der Rotunde war? Phileas strich hypnotisch langsam über Thi-Anhs Rücken, der halb auf ihm lag, angekuschelt und zuwendungsbedürftig. Um sie herum schliefen Daimonen-Kinder. Sie hatten beim Abendessen gemeinsam beraten, wie Phileas und Thi-Anh feiern konnten, wenn sie ihre Verbindung beim Friedensgericht notieren ließen. Warum nicht ein gemeinsames Fest mit allen, die Lust hatten? Daimonen feierten gerne, freudige Anlässe galten eher als Sahnehäubchen. Alle brachten sich ein oder etwas mit. Phileas hoffte, Detorix anspitzen zu können. Einen Teil seiner Ersparnisse der menschlichen Welt sollten sich doch auch umwandeln lassen, um hier zu feiern! Hoffte er zumindest. Thi-Anh spielte mit einer langen Strähne. „Ich habe...mich übernommen. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen“, wisperte er, streifte mit der Nasenspitze Phileas’, als der den Kopf drehte. „Muss spektakulär gewesen sein. Und ich hab’s verpasst“, murmelte Phileas, um Thi-Anh ein wenig zu necken. Der schauderte heftig, was Phileas veranlasste, Thi-Anh intensiv zu küssen. „Du brauchst eine Pause, mein Süßer. Gönn’ sie dir“, beschied er Thi-Anh, dessen überraschtes Ächzen er nicht nur hörte, sondern spürte. „Süßer?“, wiederholte Thi-Anh ungläubig. „Sehr Süßer sogar“, bekräftige Phileas ungeniert, „du schmeckst nicht nur so, was lediglich ein wenig auf dem Mus zum Nachtisch beruht, du BIST es auch.“ „Ich komme mir ein wenig verniedlicht vor“, konterte Thi-Anh leise. „Du bist süß UND niedlich“, grinste Phileas, „außerdem sowohl liebevoll als auch liebenswert, ungesund pflichtbewusst, zu rücksichtsvoll, sehr einfühlsam und extrem überarbeitet.“ Thi-Anh brummte, wagte jedoch keinen Widerspruch. „Lass’ uns beide ein neues Kapitel aufschlagen, hm?“, Phileas applizierte leichte Küsse. „Und wir brauchen ein eigenes Bett“, murmelte Thi-Anh entschieden, kraulte Phileas unter dem T-Shirt die Brustpartie. Ja, DAS musste auch auf ihre Erledigungsliste, sogar ziemlich weit oben! 1w1 Detorix schob sein Pfefferminzbonbon in die andere Backe. „Damit ich nichts vergesse: du willst im Kindergarten bleiben, bis DEIN Rudel in die Schule kommt, in Teilzeit in der Collectio arbeiten und nebenher Fälle in der Kanzlei betreuen? Während dein Alter Ego sich ins Ausland abmeldet und somit für die mörderischen Erbschleicher nicht habhaft wird? Außerdem hättet ihr gern noch ein Zimmer mit Platz für ein Bett?“ Phileas drückte unter dem Tisch Thi-Anhs Hand. „Geht das nicht?“, erkundigte er sich laut bei Detorix. Ein grummeliger Blick traf ihn streng. „Für den Part hier habe ich einen KOK-Offize eingespannt. Komitee organisierter Kreativität“, übersetzte er beiläufig, „der andere Kram ist Bürokratisch, also mein Aufgabengebiet.“ „Könntest du einen Teil meiner menschlichen Ersparnisse in etwas umwandeln, damit wir ein Fest feiern können? Wir wollen heiraten“, hakte Phileas den nächsten Ordnungspunkt geistig ab. „Hm“, brummelte Detorix, „ich kenne da jemanden. Sollte klappen.“ „Danke schön“, Phileas lächelte, „ich hoffe, du nimmst auch an der Feier teil.“ „Werde ich, schon aus Selbsterhaltung. Das Einhorn ertränkt mich in salzigen Fluten, wenn ich Romantik nicht ausreichend würdige“, verdrehte Detorix seufzend die Augen. Thi-Anh gluckste amüsiert. „Ich werde mich auch beraten lassen“, nun drückte Thi-Anh Phileas’ Hand, „ich möchte etwas anderes tun.“ Detorix klappte seine Lesebrille ein und nickte knapp. „Nun, ich werde nicht jünger entgegen des äußeren Anscheins, also mache ich mich an die Arbeit. Ihr beide stellt bitte nichts an, sonst drückt mir das Friedensgericht noch die Verpflichtung auf, dass euch ein SP zugeteilt wird!“ Thi-Anh ächzte und versprach sofort, sich mustergültig zu verhalten. Phileas folgte seinem Beispiel, auch wenn er nicht wusste, was ein SP war und wie schlimm es werden konnte. „Sozius Pflegende“, übersetzte Thi-Anh, als sie sich wieder der Kindergartengruppe anschlossen, „die kümmern sich um Leute, die Anpassungsschwierigkeiten haben. Oder Dimensionsgrenzen durchbrechen“, seufzte er. „Sind die so schreckenerregend?“, Phileas konnte sich kein inneres Bild machen. Thi-Anh schauderte. „Unerschöpflich geduldig trifft es eher“, murmelte er, „die kochen jeden weich.“ Phileas lupfte eine Augenbraue, beließ es aber dabei. Bei seiner Ungeduld wäre es wahrscheinlich gefährlich, dass jemand ihn beaufsichtigte und NIE aufgab! 1w1 KOK-Offize Dionne war unübersehbar ein Muskelpaket. Selbst die Schocklanze wirkte bei ihr eher wie ein Zahnstocher. Außerdem schien sie Phileas mit kaum verhohlener Wissbegierde zu mustern. „Ja, ich bin eine Art Vampir“, eröffnete er die Quiz-Stunde schicksalsergeben. „Ooooh...trägst du auch mal volles Ornat? So’n Smoking mit Umhang, ja?!“, Dionne strahlte ihn auffordernd bis enthusiastisch an. Nach Phileas’ Eindruck verfügte sie über mehr als den üblichen Satz Zähne. Die liefen auch noch alle spitz zu! „Nur auf der anderen Seite, inkognito“, Phileas zuckte lässig mit den Schultern, „die Kleidungsstücke sind alle mehr oder weniger belastet.“ Dionne ließ imposante Schultern hängen. „Verstehe. Und Vampire stehen wirklich auf diese ätherischen Leute, wie?“, dabei nickte sie Thi-Anh zu. Der stutzte verwirrt, auch wenn er mit Phileas Händchen hielt. Ätherisch hatte man ihn bisher noch nicht etikettiert! Phileas reckte sich zu voller Größe, auch wenn Dionne ihn locker in den Schatten stellte. „Ich bin ein moderner Vampir. Da zählen besonders innere Qualitäten. Außerdem ist Thi-Anh ein bisschen mitgenommen, aber das gibt sich bald wieder. Es ginge mir gegen die Ehre, andere wissentlich und willentlich zu schwächen!“ Dabei gestikulierte er derart ausgreifend, als trage er tatsächlich einen Umhang. Selbst Thi-Anh staunte ob der Theatralik. „Ach je, ich wollte dich nicht beleidigen“, versicherte Dionne eilig, „nichts für ungut, ja? Es sind nur diese...Filme. Wahrscheinlich alles traditionelle Vampire. Auch wegen der Hauer“, erläuterte sie die Quelle ihres Wissens. Phileas nickte gravitätisch und fragte sich, wann ihn wegen Anmaßung, Schmieren-Theater und schlechtem Geschmack der Blitz treffen würde. „Du hast nicht zufällig einen Bruder oder Verwandten oder Freunde, die auch moderne Vampire sind?“, heischte Dionne hoffnungsfroh nach. Thi-Anh ächzte. 1w1 Obwohl Phileas ihrem KOK-Offize Dionne keine Offerte für Kupplungsversuche machen konnte, legte sie sich launig ins Zeug. In der Collectio hoffte man auf Unterstützung, die Kanzlei war für jede Hilfe dankbar und im Kindergarten sah man kein Problem darin, dass Phileas mit seinen Freunden bis zum Schulantritt für einige Stunden mittat. Ganz ohne Schriftverkehr. Phileas staunte und verstand gleichzeitig, warum Daimonen mit menschlicher Bürokratie und Regelungswut so ihre Schwierigkeiten hatten. Da trafen ganz unterschiedliche Gesellschaftsmodelle aufeinander! Von mentalen Grundzuständen ganz zu schweigen. Dionne lieferte sie mit dem Versprechen, sich um weitere Details zu kümmern, bei einer Wohnbehausung mit mehreren Stockwerken ab. Umlaufende Stiegen erschlossen die einzelnen Etagen. Im Erdgeschoss wartete ein uralter Daimon in einem kleinen Wagen auf sie. „Aha, aha! Sieh’ an, das ist ja der kapitale Bursche!“, jodelte er, mit nur noch wenigen Zähnen bestückt, wedelte mit einem dünnen Arm. Phileas registrierte, dass ihm richtige Blätter anstelle von Haaren aus dem Kopf sprossen. „Dimensionssprenger, wie?“, die Begrüßung galt Thi-Anh, der bisher in Phileas’ Windschatten und dessen Renommee als Vampir kaum prominent hervorgehoben wurde. „Prunus“, eine ledrig wirkende Hand musste geschüttelt werden, „ein richtiger VIP hier, haha! Dionne sagte was von einem Zimmer!“ Nachdem er nacheinander kräftige Händedrücke absolviert hatte, rotierte er geübt mit dem Wägelchen, „führe euch mal herum!“ Tatsächlich gab es die Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss plus wenige Zimmerchen für die, die weder die Steigung noch die Stiegen überwinden konnten. Prunus kümmerte sich als Major Domus um alle Belange der vielköpfigen Bewohnenden. Nassräume, eine große Küche mit Sitzplätzen, alles natürlich geothermisch, Dampfreinigung und Wäscheleinen. Dazu gab es ein „Arsenal“, das Spiel- und Werkzeug, Putzutensilien und allerlei enthielt, was man entleihen konnte. Ihr Zimmer fand sich auf Ebene 5, mit einem Quadrat markiert. „Ich habe im Möbellager hinten einen Bettrahmen, ja. Nur der Lattenrost, tja, der müsste wohl mal geflickt werden“, ließ Prunus sie wissen. Phileas folgte der Einladung und studierte den Steckrahmen, dann den lädierten Lattenrost. „Das kann ich ausbessern. Ich habe im Kindergarten gelernt, wie man eine Matte flickt“, nickte er. Allerdings brauchten sie auch eine Matratze. Und Decken. Kopfkissen. „Ich habe noch Bettzeug im Arsenal“, ahnte Prunus die Ursache für Phileas’ gedankenvolles Schweigen, „schaut es euch mal an. Wenn ihr Hilfe beim Hochschaffen braucht, sagt ruhig Bescheid. Wir haben einen umlaufenden Flaschenzug.“ „Wegen der Miete…“, begann Phileas, doch Thi-Anh drückte seine Hand, „ich zahle sie.“ „Perfekt! Die Quäste schaut einmal im Monat vorbei. Ich sage euch Bescheid“, Prunus pirouettierte geschmeidig, „wenn ihr Fragen habt, kommt einfach. Oder läutet die Glocke da!“ Er grinste mit den isolierten Zähnen. „Dann herzlich Willkommen!“ 1w1 Thi-Anh erklärte, er werde sich im Arsenal nach Bettzeug umsehen. Phileas küsste ihn sanft, bevor er tatendurstig aufbrach, um ihre Habseligkeiten aus dem Medi-Zentrum und dem Kindergarten zu holen. Die Daimonen-Kinder freuten sich zu hören, dass er einen Schlafplatz bekommen hatte und weiterhin mit ihnen einen Teil des Tages verbrachte. Man konnte schließlich noch eine Menge voneinander lernen! Phileas apportierte gut gelaunt seine unförmige Last samt seines kuriosen Basses. Als er das Gebäude erreichte, war Thi-Anh auf das Bettzeug gesunken und schlief. Prunus zwinkerte. „Ein Päuschen in Ehren. Hab’ lange kein Phantom mehr getroffen“, flüsterte er Phileas zu. Der wisperte, „ich trage erst mal alles hoch und hole Thi-Anh dann. Danke für alles, Prunus.“ „Immer gern, Herr Vampir“, feixte der uralte Daimon, tippte sich an das belaubte Haupt. 1w1 Es musste erst mal ohne Bett gehen. Phileas balancierte die Teile des Steckrahmens gegen die Wand, legte das Bettzeug aus und verteilte rasch ihr spärliches Hab und Gut. Das Zimmer war klein, verfügte gegenüber der Tür jedoch über ein Fenster mit vorgehängtem Rollo aus Grasrohren. Ein sich verjüngender Lichthof bot die Aussicht auf die Fensterfronten der anderen Geschosse. Da Phileas an sein Einzimmer-Appartement gewöhnt war, empfand er die Dimensionen nicht als beengend. Zwar war es durchaus gewöhnungsbedürftig, weder Küchenzeile noch Toilette oder Dusche direkt im Wohnraum zu haben, aber er fühlte sich nicht so eingeschränkt. Das Leben fand hier ganz offenkundig in der Gemeinschaft statt. Er flitzte über die äußeren Stiegen und Stege runter, grüßte fröhlich und war nicht überrascht, dass alle bereits wussten, wer er war und warum er hier weilte. Thi-Anh schlief noch immer. Phileas ging neben der Sitzbank in die Hocke, streichelte durch Thi-Anhs Schopf, bis der müde blinzelte. „He, mein Süßer, glaubst du, du kannst dich festhalten, wenn ich dich Huckepack nehme? Oben schläfst du bestimmt besser“, schlug Phileas amüsiert vor. Thi-Anh zog kindlich die Nase kraus, nur halb wach. „Ich kann laufen. Glaube ich“, murmelte er, setzte sich auf, rieb sich die Augen. „Wollen wir?“, reichte Phileas, aus der Hocke federnd, ihm die Hand. „Hmm“, brummelte Thi-Anh, ließ sich an der Hand ziehen. Als er zum zweiten Mal stolperte, votierte Phileas für unverschämte Tyrannei. Er zog sich Thi-Anh schlicht auf den Rücken und spazierte entschlossen ihrem Zimmer entgegen. Als er Thi-Anh dort behutsam herunterließ, schlief der schon wieder fest. Phileas schloss die Tür, streifte sich die Kleider bis zur Unterwäsche ab und kroch zu Thi-Anh. Der schmiegte sich unterbewusst seufzend an ihn, wachte nicht auf. „Träum’ schön, mein Süßer“, flüsterte Phileas glücklich. Nein, es gab wirklich keinen Anlass, mit seinem Schicksal zu hadern! 1w1 Phileas erwachte voller Tatendrang. Er fischte rasch nach seiner Brille, die ihm immer besser gefiel, bemühte sich dabei, Thi-Anh nicht aufzuwecken. „Müssen wir aufstehen?“, erkundigte sich Thi-Anh matt. „Wenn du noch müde bist…“, setzte Phileas rücksichtsvoll an, richtete sich auf. Eine Hand krallte sich in seine spärliche Bekleidung. „Ist dir übel?“, hastig fischte Phileas nach der Kürbisflasche und angelte aus dem Reservoir ein gerolltes Blatt mit Pulver. „Seekrank“, presste Thi-Anh durch die Zähne, während Tränen aus seinen Augenwinkeln sickerten. >Migräne-Attacke<, dachte Phileas, schob eilig einen Arm unter Thi-Anhs Rücken, lupfte ihn ausreichend, damit Wasser und Pulver geschluckt werden konnten. Thi-Anh stöhnte kläglich, als er wieder abgelegt wurde. „Ich nehme an, dass Frühstück für dich keine reizvolle Aussicht ist“, wisperte Phileas mitfühlend, tupfte die Tränenspuren ab. Beherrscht atmend schüttelte Thi-Anh andeutungsweise den Kopf. „Kann ich etwas für dich tun?“, erkundigte Phileas sich hilflos. „Hmhm“, Thi-Anh würgte Speichel herunter, „geh’ schon vor. Ich komme nach.“ Phileas haderte mit sich selbst. Tatsächlich konnte er hier nicht viel tun, doch es erschien ihm gleichzeitig schofel, Thi-Anh in seinem Leid hier allein zu lassen. „Körner“, murmelte Thi-Anh, „sammel’ Körner. Aeroflott. Schreib’ meinen Eltern, wo wir wohnen. Bitte.“ Diesen Auftrag dechiffrierend beugte Phileas sich vor, küsste Thi-Anh sehr sanft auf die gerunzelte Stirn. „Mache ich. Wir treffen uns im Kindergarten, ja?“ 1w1 Nach einer eiligen Wäsche und einem hastigen Frühstück gegen das Versprechen, am Nachmittag für Prunus das Lager umzuräumen, flitzte Phileas in den Kindergarten. Welche Körner könnte er einsammeln und als Lohn für die Aeroflott anbieten? Sofort hatte er hilfreiche Daimonen-Kinder an seiner Seite. Pseudo-Getreide aus Gräsern gab es in der Nähe, nicht viel, aber ausreichend für das „Porto“. Dann musste eine Botschaft verfasst werden, die in das Rohrplombensystem passte! Phileas registrierte zu seiner eigenen Beruhigung, dass ihm die daimonischen Schriftzeichen immer lockerer vom Stift gingen. Wobei es sich um einen angespitzten Grashalm handelte, den man in Tinte tunkte, um auf sehr dünnem Pergament zu schreiben. Begleitet von einer kleinen Entourage absolvierte er den Gang zum nächsten Aeroflott-Posten. Leichte, dünn zusammengerollte Botschaften waren günstig. Sie wurden von Station zu Station transportiert. „Zwei Tage“, zwitscherte ein Vogel-Daimon munter, sortierte ohne Anzeichen von Ungeduld oder Verärgerung die Ausbeute an gesammelten Körnern und Samen. Ein Rest sollte zurückgehen, doch gemeinschaftlich winkte man ab. Knabbergeld sozusagen. „Vielen Dank, sehr freundlich“, trällerte der Piepmatz erfreut, „beehrt uns bald wieder!“ „Wirst du öfter schreiben?“, erkundigte man sich bei Phileas, der sich umsah, ob er irgendwo Thi-Anh entdecken konnte. „Ich denke schon. Man bekommt nicht so oft die Gelegenheit für ein Omniskop-Gespräch, oder?“, antwortete Phileas. „Stimmt“, votierte man nach kurzer Debatte, „es ist schon besonders, wenn man jemandem so weit weg schreibt. Du könntest lernen, wie man die Tinte mischt und das Papier schöpft“, wurde ihm geraten. Phileas nickte, bevor ihm bewusst wurde, wie anders das Leben hier verlief. „Vorher“ wäre er für die Korrespondenz nicht auf die Idee gekommen, selbst Schreibwaren und Papeterie herstellen zu müssen! „Geht es Thi-Anh nicht gut?“, deuteten seine sehr viel jüngeren Begleitenden seine suchenden Blicke. „Heute Morgen war ihm nicht gut. Er wollte nachkommen“, Phileas seufzte, „leider kann ich nicht mehr tun als ihm Schmerzmittel zu geben. Nun, ich könnte die Matte für den Lattenrost ausbessern“, erwog er laut. Allerdings profitierte er selbst auch davon, sodass ihm diese Arbeit als zu wenig bedeutsam erschien. Andererseits, was konnte er sonst tun? Die Collectio lag ein gutes Stück weg, sodass er Thi-Anh verpassen würde. Von der Kanzlei hatte niemand einen eiligen Fall gemeldet. „Was machen wir heute? Bevor ich mich an die Matte begebe, will ich die Gemeinschaftsaufgaben erledigen!“ 1w1 Thi-Anh ließ sich kurz vor Mittag im Schatten eines Baums nieder, beobachtete das Treiben im Kindergarten. Nach einer freudigen Gruß-und Kuss-Runde durfte er sich ausruhen und an einem Becher mit schwachem Tee nippen. Nicht viel später plumpste Dionne neben ihn, ächzte unterdrückt, sich den Rücken reibend. „Geht es dir gut?“, erkundigte sich Thi-Anh höflich. „Ja, doch, zumindest zum größten Teil“, Dionne grinste mit den spitzen Zähnen, „hab’ mit Atlas seinen größten Umzugswagen repariert.“ Die Ex-Göttlichkeit hatte „die Welt abgeworfen“ und war selbständiger Umzugsunternehmer geworden. Mit Lasten kannte er sich also aus. „Schon nett, wenn man seine Lieblings-Person bei der Arbeit kennenlernt“, seufzte Dionne unterdessen, beäugte Phileas, der zwischen den Kindern hockte und sich mit ihnen beratschlagte. „Warum gefallen dir Vampire eigentlich?“, Thi-Anh staunte darüber, wie offen, ungezwungen und zugewandt Phileas inmitten der Kinder agierte. Das hatte er nicht vermutet, auch wenn er dessen private Seite kannte. „Ach, das Ambiente vermutlich!“, stoßseufzte Dionne, „eine schlossartige Burg, Wetterleuchten, ein unheimlicher Gastgeber, Vollmondnächte, dazu Orgelspiel…“ Die KOK-Offize schnaubte, „andererseits stehen mir diese Nachthemden im Empire-Stil überhaupt nicht. Außerdem gruselt es sich immer in die falsche Richtung, sprich von mir weg.“ Thi-Anh erwog eine diplomatische Antwort. Zweifellos war ein solches Raubtiergebiss plus eine imposante, vor Muskeln und Kraft strotzende Erscheinung nicht dazu angetan, das Gegenüber in Überlegenheitsgefühlen anzuspornen. „Horror mag ich ja nicht, aber so ein wenig Grusel…“, Dionne lupfte mit den mächtigen Schultern, „na ja, vermutlich würde es mit einem traditionellen Vampir ohnehin nicht klappen. Wusstest du, dass sie in Graberde in ihren Särgen liegen?“ Thi-Anh lupfte eine Augenbraue. „Wahrscheinlich müsste man ihnen Duftsäckchen umhängen“, explorierte Dionne ungehindert die behauptete Eigenart, „müffelt vermutlich ziemlich. Ich bin nicht sicher, ob das noch unter ‚gruselig‘ läuft.“ „Ich bin noch keinem traditionellen Vampir begegnet, daher kenne ich mich nicht aus“, mühte Thi-Anh sich, ein Naserümpfen zu vermeiden. Dracula, behängt mit „Wunderbäumchen“ wie der Rückspiegel einer Schrottkarre?! Die Vorstellung war weniger furchterregend als lächerlich. „Ist wahrscheinlich mal wieder mein Hang zu phantasievoller Vorstellungskraft“, seufzte Dionne ergeben, „die Idee scheint mir immer angenehmer als die profane Realität.“ Thi-Anh brummte mitfühlend. „Wie gefällt euch das Zimmer bei Prunus?“, wechselte Dionne unbekümmert das Thema, kramte aus einem Hüftbeutel ein eingeschlagenes, großes Blatt, in welchem sie Bonbons verwahrte. Thi-Anh lehnte das freundliche Angebot ab, „danke, aber mein Magen ist noch empfindlich. Das Zimmer ist prima und Prunus war sehr zuvorkommend. Wir haben ein Bett und Bettzeug bekommen.“ Dionne nickte, während sie ausgiebig lutschte, das Bonbon zwischen den Backen hin und her schob. „Ich bin noch suspendiert“, Thi-Anh straffte seine Gestalt, wandte sich Dionne zu, „aber ich glaube nicht, dass ich in den Sicherheitsdienst zurückkehren kann.“ Zu seinem Ärger flackerte seine Erscheinung leicht. Als wäre das nicht beschämend genug, hatte Phileas aus dem Augenwinkel die verräterische Reaktion seines Körpers registriert, rückte eilig heran. „Nichts weiter“, versuchte Thi-Anh zu beschwichtigen, doch zu spät, denn schon hatte Phileas sich vorgebeugt und ihn eng umschlungen. „Mit mir ist alles in Ordnung“, versicherte Thi-Anh, wurde nachdrücklich beschmust. Dionne schmunzelte, „das nenne ich eine Medizin nach meinem Geschmack!“ Sie tätschelte Thi-Anhs Oberschenkel beiläufig, „nur die Ruhe, mein Freund. Es gibt keinen Grund, sich unter Druck zu setzen. Wenn du dich in der Lage fühlst, werden wir gemeinsam herausfinden, was du tun kannst.“ Damit erhob sie sich, reckte und streckte imponierende Muskelstränge, sammelte schließlich die Schocklanze ein. „Ich mache mich mal auf die Socken. Bis die Tage, ihr beiden!“, salutierte sie geschmeidig, winkte auch den Kindern zu. Deren besorgte Blicke beruhigte Phileas mit einer munteren Geste. Anschließend gab er Thi-Anh frei, ging vor ihm in die Hocke, hielt dessen Hände locker in seinen eigenen. „Was meinst du, willst du mit uns zu Mittag essen? Oder etwas anderes als den dünnen Tee trinken?“, erkundigte er sich lächelnd. „Vermutlich bringe ich nicht viel herunter“, bekannte Thi-Anh, „ansonsten geht es mir wirklich gut. Es war nur…“ Er seufzte, verwünschte still seine Psyche, die ihm nicht erlaubte, sich zu verstecken. „Wir haben Zeit, mein Süßer. Es gibt keinen Grund zur Eile“, Phileas unterbrach sich selbst lachend, „ausgenommen vielleicht die Pfannkuchen, die wir machen wollen!“ Er federte aus der Hocke und zog Thi-Anh behutsam auf die Beine, grinste ihn so jungenhaft an, wie Thi-Anh es nur selten gesehen hatte. „Was glaubst du, ob ich einen Pfannkuchen werfen kann?“ 1w1 Phileas apportierte die zusammengerollte, frisch geflickte Matte auf dem Rücken, mit einem Riemen gesichert, während er Thi-Anhs Hand hielt. Sie flanierten entspannt unter den sich langsam dem Horizont nähernden zwei Sonnen. Hier war es so angenehm mild, dass Phileas Mühe hatte sich zu entsinnen, wie sich der Herbst auf der „anderen Seite“ anfühlen mochte. Immer wieder wurden sie gegrüßt oder angesprochen. Noch immer war „der Vampir“ eine Sehenswürdigkeit, auch wenn sich manche lieber erkundigten, ob er mal wieder musizieren würde. Thi-Anh wurde mit freundlichen Blicken bedacht, was Phileas erleichterte. Niemand schien ihm übel zu nehmen, was sein Überqueren der Dimensionsgrenzen außerhalb der Portale bewirkt hatte. „Warte bitte einen Moment“, bremste Thi-Anh ihn höflich, löste sich, um in einen kleinen Laden unter Arkaden zu treten, die zu einem weiteren wabenartigen Wohngebäude gehörten. Phileas wurzelte artig, während er versuchte, sich aus dem sichtbaren Sortiment einen Reim auf das Geschäft zu machen. Muße dazu bekam er nicht, denn sofort wählten ihn einige Dämonen-Kinder zum Ziel, hielten ihm fragend eine dünne Tafel hin. „Herr Vampir, kannst du uns einen Rat geben? Unsere Aufgabe ist es, diesen Text zu übersetzen, aber diese Passage ergibt keinen Sinn“, adressierten sie ihn höflich. „Wenn es eine Sprache ist, die ich kenne, helfe ich gern“, Phileas ging in die Hocke, überflog die Verse. Oder eher die Lyrics. Vage meinte er, sich an ein Lied zu erinnern. Nicht seine Kragenweite, auch wegen der zahlreichen unflätigen Ausdrücke. „Herrje“, murmelte er. Schimpfworte hatte Thi-Anh ihm nicht beigebracht. Er war auch nicht sicher, dass Daimonen solche im Repertoire hatten. „Das ist knifflig“, bekannte er, sich der konzentrierten Aufmerksamkeit der Kinder bewusst, tippte auf die Worte, ohne die Kreide auszulöschen, „da sind einige sehr unfeine, beleidigende Begriffe darunter.“ „Oh“, murmelten die Daimonen-Kinder unisono, „sind es… Schmähungen?“ Sie seufzten betreten, „es klang ganz melodisch.“ Phileas grimassierte. Natürlich konnte er den bekümmerten Mienen nicht widerstehen. „Ich erkläre euch, was gemeint ist, ja? Und danach könntet ihr ja auf die Melodie einen eigenen, schönen Text schreiben, oder? Wäre die Hausaufgabe damit nicht auch erfüllt?“, schlug er vor. Man beratschlagte sich rasch, nickte dann begeistert. Verschwörerisch winkte Phileas die Kinder näher heran, flüsterte ihnen den Inhalt zu, wobei er den Takt klopfte. 1w1 Thi-Anh schmunzelte unwillkürlich, als er Phileas in Gesellschaft von Daimonen-Kindern fand. Da schien sich ein Muster abzuzeichnen, an das er sich besser rasch gewöhnte. Er ließ sich auf einem freien Hocker nieder, von denen einige zum Verweilen einluden, beobachtete amüsiert das Geschehen. Phileas’ Verhalten verblüffte ihn immer wieder. Er schien richtig aufzublühen, war nicht reserviert, zurückgenommen und angespannt. Die Konsultation wurde beendet, indem Phileas die „High-Five“-Geste adaptierte und erklärte. Man kicherte und gluckste, trollte sich höchst vergnügt, um offenkundig einen besseren Text zu verfassen. Thi-Anh stand auf, lupfte amüsiert eine Augenbraue, „noch mehr Fans, Herr Vampir?“ „Nein, nein“, winkte Phileas ab, griff selbstbewusst nach Thi-Anhs Hand, „nur das Missverständnis, dem ich auch in meiner längst vergangenen Jugend aufgesessen bin! Es klingt gut, aber wenn man dann den Text versteht…“ Er schüttelte sich, hob ihre verschränkten Hände und drückte ungeniert einen Kuss auf Thi-Anhs Handrücken, „danke für deine Geduld.“ Thi-Anh lächelte, „wir sind quitt, immerhin musstest du auch auf mich warten.“ Was Phileas an den Laden erinnerte und das für ihn nicht erkennbare Sortiment. „Was genau ist das für ein Geschäft?“, erkundigte er sich interessiert. In sich hinein grinsend legte Thi-Anh den Zeigefinger auf die Lippen, „lass’ dich überraschen, MEIN Vampir!“ 1w1 Phileas steckte konzentrierten den Bettrahmen zusammen. Thi-Anh half ihm, die geflickte Matte als Lattenrost zu befestigen, bevor sie die Matratze auslegten. Eine Sitzprobe schien angezeigt, also platzierte Phileas sich, ließ sich auf den Rücken sinken. „Scheint ziemlich stabil“, kommentierte er ihre Anstrengungen, mit Flechtwerk und Bändern eine solide Konstruktion zu bestücken. Thi-Anh streifte sich Hemd und Hose ab, fischte einen schmalen Beutel heran, bevor er unbekleidet auf Phileas’ Schoß stieg, sich über ihn beugte. „Lass’ uns vögeln“, wisperte er gedämpft. Eine Einladung, die sich Phileas selbstredend nicht entgehen ließ. 1w1 Thi-Anh richtete sich langsam auf, was den Winkel veränderte. Phileas adaptierte mühelos daimonisches Gleitmittel und den „Überzieher“, hielt ihn umschlungen, während er ihn so leidenschaftlich wie gefordert penetrierte. In vollem Vertrauen ließ sich Thi-Anh an Phileas’ Brust ziehen, presste die Handflächen gegen die Wand. Vor seinen Augen explodierten Blitze, er konnte gerade noch einen Unterarm vor den Mund schlagen, um nicht laut aufzustöhnen. Dieses Feuerwerk sagte ihm sehr zu, kein Vergleich zu den Erinnerungsfetzen an seinen „Dimensionssturm“!“ Er keuchte benommen, als er Phileas’ heftige Entladung registrierte, dessen Griff um seine Taille für einen Augenblick schmerzhaft wurde. Ächzend schwankten sie auf dem soliden Bett, stützten sich gegenseitig, von einem dünnen Schweißfilm benetzt. „Alles in Ordnung?“, erkundigte Phileas sich, hielt Thi-Anh umschlungen, auf die Hacken gesackt. „Bestens“, wisperte Thi-Anh, wandte sich, um Phileas zu küssen. Mit steigendem Engagement. „Willst du…?“, erkundigte sich Phileas schließlich, leckte sich die Lippen. „Ich will“, bekräftigte Thi-Anh, beugte sich vor, damit Phileas sich von ihm löste. Er ließ sich auf den Rücken sinken, betrachtete Phileas, der geübt die daimonischen Hilfsmittel abstreifte, sich dann über ihn beugte. „Habe ich schon erwähnt, dass ich dich liebe?“, zwischen einzelnen Silben beregnete er Thi-Anh mit neckenden Küssen. „Wiederholt“, lächelte Thi-Anh, strich seinerseits über Phileas’ Brustkorb, sein Gesicht, die glatten, schwarzen Haaren, „außerdem entsinne ich mehrerer Heiratsanträge.“ So gesprächig hatte Thi-Anh Phileas vorher nicht erlebt, auch nicht so fiebrig-enthemmt vor Verlangen. Es rührte und amüsierte ihn gleichermaßen. „Hast du sie angenommen?“, Phileas küsste Ameisenspuren von Thi-Anhs Kiefer bis zu den Schläfen über die Stirn und dann die andere Gesichtshälfte wieder retour. „Soweit ich zu Wort kam“, gluckste Thi-Anh, ächzte leicht, als Phileas sich auf ihm einrichtete. „Ich glaube, wir sollten ein Kundenkonto bei dem Laden einrichten“, bemerkte Phileas, „oh, willst du einen Ring? Oder was Blaues?“ Thi-Anh, dem Phileas’ Bemühungen nicht verborgen geblieben waren, ihm eine angemessene Heirat zu bieten, lachte leise, funkelte in die Brillengläser. „Darf ich sie dir abnehmen?“, erkundigte er sich, strich über die Bänder. Phileas zögerte, denn er konnte ohne sie kaum etwas erkennen, wollte nichts von Thi-Anhs Gesichtsausdrücken verpassen. „In Ordnung“, entschied er, obwohl es noch recht hell war, „sag’ mal, wäre dir auch ein geknüpftes Armband recht? Das könnte ich bewerkstelligen“, bot er an, legte seine Brille behutsam auf den Boden neben ihrem Bett. „Das würde mir sehr gefallen“, Thi-Anh stützte sich auf einen Ellenbogen, küsste Phileas herausfordernd, „wirst du auch eins tragen?“ „Klar“, nickte Phileas, bewegte sich in unmissverständlicher Reibung über Thi-Anhs Unterleib, „ich liebe dich übrigens.“ Nun konnte Thi-Anh ein Kichern nicht vermeiden, das jedoch in ein gutturales Stöhnen überging. Er schlang die Arme um Phileas’ Nacken, wisperte in dessen geneigtes Ohr. „Ich will, dass du in mir abspritzt, bitte.“ 1w1 Phileas nutzte grundsätzlich aus hygienischen Gründen Kondome. Etwas anderes wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Das daimonische Gleitmittel würde den heftigen Austausch von Energie und Flüssigkeiten geschmeidig gestalten. Trotzdem… Er schob seine Bedenken beiseite, bereit, Thi-Anh alle Wünsche zu erfüllen. Dessen ungeheurem Wagemut verdankte er schließlich sein untotes „Leben“!“ Vage nahm er an, dass es auch noch einen anderen Grund für diesen bisher nie geäußerten Wunsch geben konnte. Thi-Anh spreizte unterdessen die Beine, ließ sich einrollen, um das Eindringen zu erleichtern. Er verschränkte die Knöchel hinter Phileas’ Rücken, ließ sich heftig küssen und spornte ihn an. Mehr, stärker, tiefer, so heftig, als gäbe es nie mehr eine Gelegenheit! Phileas erwartete beinahe, das Phantom-Flackern zu erleben, als er sich wie ein Leistungssportler in Thi-Anhs Unterleib ergoss. Dessen krampfartiger Orgasmus entlockte ihm ein gutturales Stöhnen. Doch trotz aller Euphorie der Empfindungen und ohne Brille bemerkte er kein verräterisches Diffundieren. Thi-Anh hingegen verabschiedete sich kurzzeitig in eine Ohnmacht. 1w1 „Wir sollten einen Abstecher in den Waschraum unternehmen“, schlug Phileas vor, Thi-Anh in seinen Armen geborgen. „Gute Idee“, schnurrte Thi-Anh, der so gelöst wirkte, dass Phileas seine Vermutung bestätigt fühlte. „Kannst du aufstehen?“, Phileas erhob sich, band sich eilig seine Brille um und fahndete nach einem Lappen. Thi-Anh rutschte über die Bettkante und ging prompt in die weichen Knie. Das ließ ihn über sich selbst kichern. Prompt ging Phileas in die Hocke, studierte ihn im Dämmerlicht prüfend. „Soll ich dich nicht besser Huckepack nehmen?“, erkundigte er sich, doch Thi-Anh lachte leise in sich hinein. Eine Hand hebend strich er sanft über Phileas’ Wange. „Ich kann selbst laufen, mein Vampir. Der Orgasmus wirkt bloß noch ein wenig nach“, zwinkerte er, nahm Phileas den Lappen ab, um dessen austretendes Sperma abzuwischen. „Wir können noch etwas warten“, bemerkte Phileas, küsste Thi-Anh erneut auf den Mund, „ist ja kein Wettrennen.“ „Mir geht es gut“, versicherte Thi-Anh, stand jetzt sicher in direkter Nähe vor Phileas, ließ den Lappen fallen, um die Handflächen auf dessen nackte Brust zu legen. Ja, er spürte...nichts. Kein Herzschlag, aber immer noch Wärme, Transpiration, ein vages Wirbeln von Energie. Die vertrauten Arme schlangen sich um seine Hüften. „Danke“, flüsterte Phileas mit einem unvermutet andächtigen Ton, „danke, Thi-Anh.“ Thi-Anh lächelte versonnen, „ich liebe dich auch, Phileas. Ich will so viele glückliche Momente mit dir erleben wie nur irgend möglich.“ Dafür, auch wenn er es nicht aussprach, war das Ende seiner Selbstsicherheit in die eigenen, überragenden Phantom-Fähigkeiten ein geringer Preis. 1w1 Nur sehr nachlässig bekleidet schlenderten sie gemeinsam, Hand in Hand, die Stiegen und Stege herunter. Im Waschraum konnten sie sich mit geothermischen Dampfbad plus kaltem Wasser aus einer Quelle reinigen und erfrischen. Die Temperaturunterschiede belebten erschöpfte Muskeln und Sehnen. Inzwischen waren beide Sonnen längst untergegangen. Fremde Sternbilder prangten am Himmel. Phileas fand es seltsam, dass ihnen kein Mond freundlich den Weg leitete. Aber diese Welt hier verfügte nicht über einen solchen Trabanten. Bunte Laternen beleuchteten Behausungen und Plätze, ohne aufdringliches Blinken oder Gleißen. „Lass’ uns einen Freund besuchen“, Thi-Anh zupfte an Phileas’ Hand, „ich habe tatsächlich Hunger.“ „Gern“, nickte Phileas aufgeschlossen. Natürlich kamen sie nur langsam voran, denn auch zur vorgerückten Stunde schlief ihre neue Heimat nicht. Einige erkannten den „Herrn Vampir“ und grüßten freundschaftlich. Thi-Anh steuerte einen mit Stoff überdachten Verschlag an, dessen Duft bereits verlockte. Über einem mit Verbundstoffen geformten, hüfthohen Herd schwangen gebrannte große Schalen, die an Woks erinnerten. Hinter ihnen wirbelte ein beeindruckend muskulöser Daimon mit Schürze und Kopftuch, schöpfte in kleine Schalen, formte mit einem dünnen Spatel Teigfladen. „Hallo Malin“, richtete Thi-Anh über das Zischen und Brodeln das Wort an den Virtuosen. „Thi-Anh?! Und der Herr Vampir?“, der Daimon wirbelte herum, ließ Schöpfkelle und Spatel sinken, zog Thi-Anh in eine enge Umarmung. „Wie geht’s dir? Schön, dass du wieder da bist!“, sprudelte eine sonore Stimme hervor, während ein blendendes Raubtiergebiss aufblitzte. Für Phileas wirkte der ihn ein wenig überragende Daimon wie eine Version eines Jaguars, blauschwarze Haut mit Zeichnungen, eine tiefschwarze Mähne und leuchtend gelbe Augäpfel. Zudem mutmaßte er, dass diese beiden sich sehr intim kannten. „Es geht mir gut“, Thi-Anh lächelte, ließ sich noch mal abschließend herzen, „Malin, das ist Phileas. Phileas, das ist Malin, mit dem ich gemeinsam hier eingetroffen bin.“ „Genau, zwei Neuankömmlinge aus der Ferne“, Malin grinste und zog Phileas in eine Umarmung, bevor der auch nur an Ausweichen denken konnte, „freut mich sehr, Phileas! Leider habe ich die Vorlesung über Vampire verpasst.“ Phileas erwiderte die Umarmung, löste sich, „schön, dich kennenzulernen. Ich bin auch eher eine unspektakuläre Art von Vampir.“ „Wollt ihr was essen?“, Malin wandte sich geschmeidig seinem Herd zu, „oh, ich weiß nicht, was du essen kannst?“ Damit adressierte er Phileas, der das Muskelspiel registriert hatte. Knappe Hosen, Schürze und Kopftuch...hier blieb nicht viel verborgen! „Ich glaube, da gibt es kein Problem“, mischte sich Thi-Anh ein, „habe ich noch ein Guthaben?“ Malin lachte samtig, „jede Menge! Du hattest gerade was eingelöst, als du schon von der Pflicht weggerufen wurdest. Und natürlich von der Liebe!“ Dabei zwinkerte er Phileas zu. Der dechiffrierte noch die Angelegenheit mit dem Guthaben, nahm eher beiläufig eine gefüllte Schale entgegen. So ganz war er noch nicht hinter das Daimonische Modell der Volkswirtschaft gestiegen. Es gab eine Art Währung und Münzen, aber hier agierte man mit großzügigem „Anschreiben“, tauschte und arbeitete mit einem „kollektiven“ Guthaben. Es widersprach jedem Modell, von dem er jemals gehört oder gelesen hatte in der menschlichen Welt. Daimonische Wesen tickten offenkundig anders! Was ihn sorgte, weil er nicht anecken wollte. Eigentlich schien es wunderbar, dass alle nach eigenem Können und Vermögen ihren Beitrag leisteten und niemand danach strebte, mehr als alle anderen haben zu wollen. Utopisch, nach menschlichem Maß. Thi-Anh reichte ihm unterdessen eine frische Teigrolle zum Tunken in die Schale. „Bist du ganz allein hier?“, erkundigte er sich bei Malin, ließ sich auf einem einfachen Bänkchen nieder. Malin seufzte steinerweichend, während er an andere Hungrige Portionen ausgab, hin und wieder umrührte, auffüllte und Teigfladen buk. „Ja, leider! Ranis ist mit ihrem Vater weggezogen, nachdem neue Quellen entdeckt wurden. Eine Therme wollte sie ja schon immer mal betreuen! Also bin ich hier allein, rotiere elend und mein Liebesleben leidet!“ Er klang, wie Phileas fand, allerdings nicht am Boden zerstört. „Ich hab’ gehört, dass ihr bei Prunus untergekommen seid. Gefällt es euch?“, Malin plauderte unverzagt weiter. „Es ist prima“, antwortete Phileas, „vielen Dank für den Eintopf. Schmeckt wunderbar“, ergänzte er aufrichtig. Malin strahlte, was sein beeindruckendes Gebiss präsentierte. „Freut mich sehr! Ihr seid immer willkommen!“ 1w1 Thi-Anh nahm schwierige Themen lieber gleich in Angriff. Er war sicher, dass Phileas die Atmosphäre zwischen ihm und Malin richtig interpretiert hatte, auch wenn viele Daimonen spontane Umarmungen verteilten. „Wir waren kurz zusammen, am Anfang“, er drückte ihre verschränkten Hände leicht, „sind danach Freunde geblieben. Ich würde ihm gern aushelfen, während ich suspendiert bin.“ Sein Tonfall transportierte eine Frage. Phileas hoffte, dass Thi-Anh nicht zögerte, weil er befürchtete, sein Gatte in spe sei ein kleingeistiger Despot, der das Engagement für einen ehemaligen Liebhaber kategorisch untersagen würde. „Es klingt, als hätte er wirklich Hilfe nötig. Wirst du dann nachts arbeiten?“, erkundigte er sich laut. Thi-Anh lachte leise, „nein, nicht die ganze Nacht. Malin ist nachtaktiv, mir fällt das schwer. Ich helfe nur bei den Vorbereitungen. Und auch nur vorübergehend, bis ich weiß, was ich wirklich tun will.“ „Du musst dich nicht sofort wieder ins Getümmel stürzen“, Phileas blieb stehen, löste seine Hand, um Thi-Anh in seine Arme zu schließen, „lass’ dir die Zeit, die du brauchst.“ „Werde ich tun“, Thi-Anh streichelte über Phileas’ Rücken, „ich dachte nur, ich könnte meine hauswirtschaftlichen Fähigkeiten aufpolieren.“ Damit zwinkerte er Phileas herausfordernd zu. Der grinste nachsichtig, „oh, dann nur zu! Ich profitiere davon sicher mal!“ Thi-Anh knuffte ihn sanft, entschlüpfte der Umarmung, um ihn weiterzuziehen. „Du kannst fragen“, wisperte er Phileas nach einigen Schritten in gedankenvollem Schweigen zu. Phileas grummelte, bevor er nachgab. „Malin ist erschreckend attraktiv. Warum hat es mit euch nicht geklappt?“ Thi-Anh zwinkerte zu Phileas hoch. „Ich habe das Gefühl, dass Malin über dich dasselbe Urteil gefällt hat“, neckte er Phileas’ Sorge, bevor er versonnen antwortete, „ich mag Malin sehr. Allerdings ist für ihn Polyamorie ganz natürlich, während ich es nicht schaffe, mit mehr als einer Person derart intensiv verbunden zu sein.“ Phileas blinzelte hinter seiner Brille, entschlüsselte die Botschaft. „Ich bin mir nicht sicher, dass ich diese Lernkurve gemeistert hätte“, brummte er schließlich, um seine Erleichterung zu tarnen. Neben ihm lachte Thi-Anh leise. Unwillkürlich grinste Phileas, beugte sich herunter, um Thi-Anh zu küssen. Sie passten doch wunderbar zusammen! 1w1 „Thi-Anh! Bist du hier, um mir zu helfen?“, Malin strahlte über alle gleißend polierten Reißzähne, zog Thi-Anh ungeniert in eine innige Umarmung. „Ein wenig fühle ich mich ja doch deinem Liebesleben verantwortlich“, frotzelte Thi-Anh, ließ sich den Schopf zausen. „Prima!“, Malin grinste, reichte Thi-Anh eine scharfe Muschelschale zum Schneiden, „ich kann jede Hilfe brauchen!“ Er blickte über Thi-Anh hinweg, „ist Phileas nicht hier?“ Schmunzelnd sortierte Thi-Anh auf einem Holzbrett Gemüse, bevor er ordentlich zu schälen und zu säbeln begann, „nein, er ist noch im Kindergarten.“ Vertraulich beugte sich Malin zu ihm, während er Gewürze im Mörser zerkleinerte, „beängstigend attraktiv, dein Vampir.“ Prompt entwischte Thi-Anh ein Auflachen, „so ähnlich hat Phileas sich über dich ausgedrückt!“ „Guter Geschmack“, kommentierte Malin mit gespielter Würde, bevor er ebenfalls lachte, „es ist aber schön, dich so munter zu sehen.“ Thi-Anh lächelte versonnen, „es geht mir auch schon besser.“ „Nachtaktiv wirst du wohl aber nicht werden, oder?“, versuchte sich Malin mit einem schmeichlerischen Ton und dem daimonischen Äquivalent eines Dackelblicks. Amüsiert schüttelte Thi-Anh den Kopf, „nein, das hat sich nicht geändert. Ich helfe dir gern bis in den Abend, aber danach ist wie gehabt nicht mehr viel mit mir anzufangen.“ „Ooooh, ich glaube, da muss ich eine zweite Meinung bei deinem Vampir einholen“, scherzte Malin, knuffte Thi-Anh leicht in die Seite. Der grummelte, verteilte sein Schnittgut in tönerne Schüsseln, die er abdeckte. „Ich bin dankbar, dass du mir hilfst“, versicherte Malin versöhnlich, „ich weiß ja, dass du dich eigentlich noch erholen sollst.“ Thi-Anh nahm sich die nächste Fuhre vor, konzentrierte sich auf seine Fingerfertigkeit. „Ich bin suspendiert“, bemerkte er leise, „aber nicht wegen meines körperlichen Zustands. Da geht es mir schon wieder recht gut.“ Er blickte auf, sah Malin in die leuchtend gelben Augen, registrierte das wache Mitgefühl seines Freundes. „Es gibt keine Vampire“, formulierte er langsam, „tatsächlich ist Phileas vor meinen Augen gestorben. Getötet worden. Ich konnte nichts tun. Und danach“, er holte tief Luft, schüttelte die Verspannung entschieden ab, „danach habe ich mich übernommen. Es war zu viel. Einfach alles.“ Thi-Anh atmete durch, „es gab keinen Plan, keine besondere Phantom-Fähigkeit. Mein Verstand hat sich ausgeschaltet. All das Training hat nichts genutzt. Deshalb die Suspendierung.“ Malin legte sein Werkzeug ab, hob die Rechte, um sehr sanft über Thi-Anhs Wange zu streichen. „Wirst du dir verzeihen?“, fragte er so mitfühlend wie scharfsinnig. Blinzelnd versuchte Thi-Anh, seine Sicht zu klären. „Daran arbeite ich noch“, krächzte er mit belegter Stimme. „Das ist gut“, versicherte Malin friedfertig, wuschelte durch Thi-Anhs Schopf, „ich habe Vertrauen in dich.“ Mit einem Schnauben schüttelte Thi-Anh den Anflug von Kleinmut und Verzagtheit ab, „ich schaffe das.“ Unversehens stopfte Malin ihm eine kleine, gesüßte Teigrolle in den Mund, feixte herausfordernd, „hab’ ich das eigentlich richtig gehört? Phileas nennt dich ‚Süßer‘?“ Am klebrigen Knebel kauend grummelte Thi-Anh, konnte jedoch ein Lächeln nicht ganz verstecken. Malin seufzte theatralisch, „oh, ich bin SO NEIDISCH!“ Was ihn allerdings nicht daran hinderte, in beeindruckender Geschwindigkeit Gewürze zu Pasten zu verrühren, Schalen auszuwaschen und zu stapeln, dabei in den tiefen Kochschalen zu quirlen. „Er kommt mich abholen“, goss Thi-Anh noch ein wenig Öl ins metaphorische Feuer, „wenn er die Daimonen-Kinder nach Hause begleitet hat. Damit ich IHN nach Hause bringe.“ „Ich muss DRINGEND was für meine Libido tun!“, stellte Malin energisch fest, „bei so viel Liebesglück fühle ich mich ganz schwach und einsam!“ Thi-Anh lachte, knuffte Malin vertraut in einen muskulösen Oberarm, „bitte Dionne, für dich nach Unterstützung zu suchen!“ Einige Augenblicke grübelte Malin, wandte sich dann Thi-Anh zu, der mit einem schweren Tontopf rang. Mühelos nahm er ihm die Aufgabe ab, während es in seinen leuchtend gelben Augen funkelte. „Weißt du, ich glaube, ich sollte dieses neue Angebot der Aeroflott nutzen. Sie bieten an, Mitteilungen zu verbreiten, Angebote und Gesuche.“ „Eine Kontaktbörse?!“, Thi-Anh starrte Malin verblüfft an, „tatsächlich?“ Malin, der durch sein Äußeres zu auffällig war, um auf die andere Seite in die Menschenwelt zu gelangen und deshalb herzlich wenig Interesse an dortigen Gepflogenheiten hatte, runzelte leicht die Stirn, „ist das dasselbe?“ Er fischte in seiner Schürze nach einem dünnen Zettelchen, reichte es Thi-Anh. „...ach du großer M“, murmelte Thi-Anh verblüfft. Noch eine menschliche Innovation, die man besser auf Nebenwirkungen hin beobachten sollte! 1w1 Phileas spürte den kurzen Druck ihrer verschlungenen Finger, streichelte als Antwort mit seinem Daumen über Thi-Anhs Handrücken. „Es ist zwar kalt, aber trocken“, versetzte er im Plauderton, während er den entscheidenden Schritt absolvierte, unversehens von einem freien Kräuterfeld im Schein der beiden untergehenden Sonnen auf schlüpfrige Trittsteine in die Dunkelheit trat. Sofort fiel die Temperatur auf wenige Grad. Ein eisiger Wind ließ sie schaudern. Geübt fischte Phileas die Wolldecke aus der Hecke, schlang sie um sie beide. Da öffnete sich schon die Tür zur ehemaligen Pforte eines Geschäftsgebäudes. „Da seid ihr ja, wunderbar!“, strahlte Vidale, winkte sie rasch hinein. Thi-Anh atmete tief durch, merklich erleichtert, dass er zum ersten Mal seit seinem spektakulären „Durchbruch“ wieder die Menschenwelt betreten konnte. Ohne etwas auszulösen. Phileas hielt ihn entschlossen untergehakt, beugte weichen Knien vor. Sie wussten beide, dass es posttraumatische Folgen gab, die Thi-Anh blitzartig mit Fetzen der Erinnerung außer Gefecht setzen konnten. Vidale flitzte ihnen voran, äußerst munter und erfreut, „bitte nehmt doch Platz! Ich habe die Sonnensteine aufgestellt! Und Tee aufgesetzt. Oh, Detorix war auch hier, hat mir Kekse mitgebracht!“ Phileas wählte einen Hocker, zog sich Thi-Anh ohne Federlesen auf den Schoß. „Tee klingt prima“, wandte er sich Vidale lächelnd zu. Der eilte, um gleich die Becher zu füllen. Die Ablenkung nutzend studierte Phileas Thi-Anhs Miene, küsste ihn sanft auf die Schläfe. „Gut gemacht“, wisperte er zärtlich. Thi-Anh räusperte sich, lächelte zaghaft, weil ihm doch ein wenig flau geworden war. Nun, auf Phileas’ Schoß, einen muskulösen Arm um die Taille geschlungen, konnte er sich wieder sammeln. Und feststellen, dass ihm nichts fehlte, besser noch, der erstickende Druck um seinen Brustkorb verabschiedete sich. Vidale kommentierte die Sitzordnung nicht, sondern reichte gewohnt launig die Teebecher an, bevor er die Keksdose präsentierte. „Chise kommt ein bisschen später, aber wir werden bestimmt pünktlich sein“, verkündete er aufgekratzt, sprang schon wieder auf die Füße, um auf ihre „Kostüme“ zu weisen. Phileas hatte seinen Anteil an Bekleidung auf dieser Seite zurückgelassen, darunter auch seine „Vampir“-Aufmachung, die eher an einen Glam-Rocker erinnerte. Daneben präsentierte sich Vidales feiner Ausgehzwirn im Stil des Empire, wie es einem Jane-Iten gut zu Gestalt stand! Nur die vornehme Windstoß-Frisur war im Laufe der Zeit einem kleinen Nackenzöpfchen gewichen. „Ich habe mir eine Maske zugelegt“, zwinkerte der gestrandete Weltenreisende vertraulich, präsentierte eine Halbmaske im venezianischen Stil, an die er durchscheinenden Gaze-Stoff geheftet hatte. Das verbarg seinen schönen blauen Teint ausreichend, um auf Makeup zur Tarnung verzichten zu können. Da Vidale sich über seine Haut regenerierte, standen Kosmetika außer Diskussion. Chises gewohnte Steampunk-Bekleidung, die der ganzjährig spazieren trug, fehlte bereits. „Ich habe für dich improvisiert“, Vidale tippte Thi-Anh sanft aufs Knie, „einen Augenblick!“ „Jetzt bin ich neugierig“, murmelte Phileas, streichelte Thi-Anhs Handrücken bis zum Schmuckband am Handgelenk. Es stellte den sichtbaren Beweis ihres Versprechens aneinander dar. „Ich gewöhne mich langsam an ständiges Bekleidetsein“, schmunzelte Thi-Anh, dessen Phantomfähigkeiten am Besten au nude funktionierten. Phileas hatte für ihn während ihres gemeinsamen Lebens allerlei Kleidungsstücke und Schuhe angeschafft, die sich allerdings eher von pragmatischem Nutzen erwiesen und nicht unbedingt Halloween-tauglich waren. „Deine Turnschuhe sind noch da“, Vidale apportierte das Paar aufgekratzt, während er gleichzeitig einen stahlblauen Zweiteiler am Kleiderbügel präsentierte. Der Stoff changierte mit einem Seidenglanz. Thi-Anh erhob sich von Phileas’ Oberschenkeln, nahm beides entgegen. Daraufhin wirbelte Vidale herum, wischte in das Depot, um mit einem violetten Rüschenhemd und einem Zylinder zurückzukehren. Thi-Anh ächzte, warf Phileas einen nervösen Blick zu. Unauffällig würde er in diesem Aufzug bestimmt nicht sein! Phileas grinste, „DAS gefällt mir!“ Vor allem, weil das Rüschenhemd bis zum metaphorischen Südpool offenstand. „Ich habe deine Kapuzenjacke noch, du wirst also nicht frieren, bis wir in der Halle sind“, strahlte Vidale vorfreudig. Es war unmöglich angesichts seiner Begeisterung, sich kleinmütig zu sträuben. Thi-Anh bedankte sich artig, verbarg seine Verunsicherung. „Wir werden bestimmt Spaß haben“, verkündete Phileas, erhob sich, um einen Arm um Thi-Anhs Schultern zu legen, „ich war vorgestern mit den Kindern hier. Das war grandios!“ Er grinste breit und Vidale bat prompt darum, ihm die Episode zu schildern. „Wir haben uns alle geschickt getarnt“, Phileas lächelte, „dann sind wir zum Abenteuerspielplatz gezogen. Für die Kinder war das Herbstwetter eine neue Erfahrung, dazu die vielen Menschenkinder, die auch dort herumliefen. Wir haben uns Proviant mitgebracht und alles erkundet. Als wir dann gehen wollten, waren wir gleich drei Personen mehr.“ Vidale staunte interessiert, „wie das?“ „Drei Menschenkinder wollten lieber mit uns gehen. Was kein Wunder ist, wenn ich an den kleinen Charmeur mit den Hasenohren und den Katzen-Schnurrhaaren denke“, löste Phileas das Rätsel auf, „die Kinder haben den kleinen Menschen Freundschaftsbänder geschenkt. Es gibt also Hoffnung.“ Dass Menschen sich gegenüber Daimonen und vielleicht auch gegen einander verständig und zugewandt verhielten, Unterschiede nicht zum Anlass für Ausgrenzung nahmen. Freundschaftsbänder trugen die meisten Daimonen-Kinder auf Vorrat mit sich herum, seit er sich bemüht hatte, für Thi-Anh und sich selbst solche zu knüpfen. „Das ist schön“, Vidale lächelte, „ich bin erfreut, dass du dich weiter um den Daimonen-Kindergarten kümmerst. Es passt sehr gut zu dir.“ Phileas zwinkerte, „ja, wer hätte das gedacht?“ Zumindest sein altes Selbst nicht, doch jetzt teilte er sich sorgsam seine drei Jobs auf, damit er im Daimonen-Kindergarten mitwirken konnte. Für ihn war dies das beste Mittel, seine „menschlich-umgebungsblinde“ Natur immer wieder zu justieren. Thi-Anh schmunzelte angesichts der kaum wahrnehmbaren Röte des Stolzes auf Phileas’ Wangen. Tatsächlich wirkte der auch nicht mehr so blass, weil er sich oft unter den zwei Sonnen aufhielt. Nein, als fahlweißer Untoter ging Phileas auf keinen Fall durch! Sie tauschten einen vertrauten Blick aus, als Vidale sich umwandte, zur Tür blickte. „Ah, Chise ist bald da!“, verkündete er fröhlich, obwohl niemand zu sehen war. Andererseits bestand die Gedankenverbindung zwischen ihnen unverändert. „Dann werfen wir uns mal in Schale“, schlug Phileas vor, küsste Thi-Anh neckend auf die Nasenspitze. Der lächelte schief, beäugte seine Kostümierung, bevor er sein Rückgrat durchstreckte. Es war wirklich an der Zeit, sichtbar zu sein und zu bleiben! Er fischte aus seiner Tasche ein großes Bündel Freundschaftsarmbänder. Vidale flitzte bereits in den Vorraum, um sich eine struppige Strickjacke überzustreifen. Wie jeden Abend eilte er Chise entgegen, der Zärtlichkeiten NIEMALS abgeneigt war und ihn allzu gern im Kreisrund durch die Gegend schwenkte. Jetzt würden sie mit vielen anderen aus unterschiedlichen Welten ein sehr fröhliches Halloween feiern! 1w1 Ende 1w1 Danke fürs Lesen! kimera