Titel: Sweet Peppermint Autor: kimera Archiv: http://www.kimerascall.lima-city.de/ Kontakt: http://www.livejournal.com/users/kimerascall/ Original FSK: ab 12 Kategorie: Romantik Erstellt: 26.08.2001 Disclaimer: Songs gehören ihren Autoren, wie zitiert. ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ ~#~ Sweet Peppermint Der Funkwecker ließ ein penetrantes Summen ertönen, aber eine kräftige Hand erstickte ihn schon nach wenigen Sekunden. Frederike Meyfarth, genannt Rike, strich sich durch die kurzgeschnittenen dunkelblonden Haare und stieg mit energischem Schwung aus ihrem Bett. 5.00 Uhr, Montagmorgen. Sie durchquerte sicher das verdunkelte Zimmer, klein und sehr funktionell eingerichtet, bis sie das Fenster erreichte, um dort den schweren Holzrollladen hochzuziehen. Aufgeschreckte Vögel unterbrachen ihr Frühkonzert und stoben auseinander. Sie schob die Gardinen beiseite und stieß die Flügelfenster auf, um die morgendlich frische, noch taugetränkte Luft einzulassen. Ein paar Streckübungen, mehrfaches, konzentriertes Einatmen, dann schenkte sie dem Tag ein grimmiges Lächeln. "Los, Rike!" Feuerte sie sich selbst an, schnappte sich Kopfkissen und Bettdecke, um beides auf das Fensterbrett zu stapeln. In Shorts und einem Bigshirt mit Birkenstocksandalen trat sie auf den engen Flur und wechselte in das Bad hinüber. Während sie sich für den Tag frischmachte und die Stoppelbürste mit den Händen durchpflügte, lauschte sie aufmerksam den Nachrichten und Kurzmeldungen aus dem Weltempfänger, der auf einem einfachen Regal thronte. Gut informiert betrat sie ihr Zimmer wieder, um sich in die Alltagsklamotten zu werfen: eine strapazierfähige Hose aus dicht gewobener Baumwolle, ein kariertes Hemd mit abgetrennten Ärmeln, dazu die Sicherheitsschuhe. Ohne einen Blick in den Spiegel zu verschwenden, stieg sie danach in das Erdgeschoss hinunter, setzte sorgfältig den Fuß auf jede Stiege der gewundenen Treppe. Wie jeden Morgen kontrollierte sie die Alarmanlage, schaltete die Beleuchtung ein, lüftete energisch und verteilte leere Aschenbecher auf dem langen Tisch. Dort wartete bereits der große Weidenkorb, den sie zum Bäcker und zum Metzger transportieren würde. Sie füllte Kaffeepulver in die riesige Trommel ein und startete die Maschine. Dann betrat sie ihr eigenes kleines Reich, das Büro neben dem großen Gemeinschaftsraum. Seit dem Vorabend waren keine neuen Faxe eingegangen, der Anrufbeantworter zeigte auch keine Meldungen. "So weit, so gut!" Murmelte sie, hängte sich den Korb über den Unterarm, steckte Geld ein und schloss die Haustür auf. Sie durchmaß das betonierte Firmengelände, einen scharfen Blick auf die gegenüberliegende Garage werfend, wo sich die Flotte und davon feuerpolizeilich vorbildlich getrennt, das tatsächliche Lager befanden. Das lange Rollgatter war noch immer geschlossen, sie schlüpfte durch das kleine Tor daneben. Währenddessen kreisten ihre Gedanken bereits bei den Herausforderungen des heutigen Tages. ~#~ Als Rike schwerbeladen und mit weit ausholenden Schritten auf das Gelände der väterlichen Spedition zustrebte, wartete Rolle bereits auf sie. Rolle, dessen bürgerlichen Namen sie nur von der Lohnsteuerabrechnung und der Versicherungsmeldung kannte, war morgens der Erste und abends der Letzte ihrer Kernmannschaft. Obwohl gerade erst Anfang Fünfzig wirkte er mit seinem zerfurchten, aknenarbigen Gesicht und der ledrigen Haut wie ein zwanzig Jahre älterer Mann. Er hatte nur noch wenige Zähne und reichte ihr gerade bis zu den Schultern, ein ehemaliger Alkoholiker, der in einer schäbigen Pension hauste. Aber, und das hatte ihr Vater wohl auf den ersten Blick erkannt, Rolle wollte hart arbeiten. Und seit fast zehn Jahren nun gehörte er dazu, mit erstaunlicher Zähigkeit und Belastbarkeit. Vielleicht war er kein Aushängeschild für die Kundschaft, aber er erledigte seine Arbeit. Und das war etwas, was Rike schätzte. "Morgen, Rolle!" "Morgen, Rike!" Rolle wartete mit leichtem Abstand darauf, dass Rike das kleine Tor öffnete und sich dann mit dem schweren Korb hindurch manövrierte. In stillem Einverständnis zuckelte er hinter ihr her, gar nicht erst den Versuch wagend, ihr die Last abzunehmen. Das hätte sie beleidigt, so wie ihn auch ein Hilfsangebot beleidigt hätte. Rike stellte den Korb ab und schaltete den Fernseher ein, Frühstücksfernsehen. "Mach dir einen Kaffee, Rolle und lies mir aus der Zeitung vor!" Rolle nahm auf der langen Bank Platz, umfasste mit den klauenartig verkrümmten Händen eine Tasse, die er der gewaltigen Anlage entlockt hatte. Nach einem genießerischen Schluck fischte er aus seiner abgewetzten Jeansjacke eine Lesebrille mit verstärktem dunklen Gestell. Schwungvoll schlug er die Zeitung auf, prüfte das Covergirl und las dann langsam die Überschriften vor. Rike machte sich in der Zwischenzeit daran, Brötchen zu halbieren, Fleischwurst zu häuten und Honig und Marmelade sowie eine Flasche Ketchup auf den Tisch zu laden. Das Geschirr wartete wie immer in der offenen Anrichte. Beiläufig lauschte sie auf die Nachrichten, wechselte dann in den Nachbarraum, eine umgebaute Umkleide mit Waschraum, kontrollierte, ob genug Handtücher und Seife bereitlagen. Als sie in den Aufenthaltsraum zurückkam, studierte ihr Vater mit Rolle gerade die Zeitung, auf einem trockenen Brötchen herumkauend. "Morgen, Papa!" "Morgen, Rike!" Ihr Vater, ein untersetzter Riese, grinste und wischte sich Brotkrümel aus dem gewundenen graumelierten Schnurrbart. "Ich mach dann mal das Tor auf!" Gutgelaunt ließ er die riesigen Hosenträger schnalzen und stampfte zur Tür hinaus. Rike bemerkte irritiert, dass sie vergessen hatte, Butter aufzutragen. »Tssstsss!« Tadelte sie sich stumm, spülte Kaffee hinunter und senkte die Zähne in ein honiggetränktes Brötchen. Im Büro warteten noch keine Anrufe, daher konnte sie in Ruhe den Computer hochfahren, ihren ganzen Stolz. Ein gewaltiger Rechner, mit einer Menge an sorgfältig ausgesuchter Software gefüttert, nach ihrer Meinung ein unverzichtbarer Bestandteil des Unternehmens. Sie rief die Verkehrsmeldungen ab, kontrollierte die Aufgaben des Tages. Die Mannschaftsverteilung war am Vortag bereits vorgenommen worden. Wie üblich druckte sie das Tagesprogramm und die Meldungen für die Woche aus und legte sie auf den Tisch im Aufenthaltsraum. Inzwischen waren auch weitere Kollegen eingetroffen, Fahrer, Packer, Handwerker. Rike nickte jedem zu, während ihre Augen aufmerksam den Zustand beurteilten, in dem sich jeder befand. Um 6 Uhr musste der erste Lastzug das Gelände verlassen. Sie nahm sich Fahrer und die zwei Packer beiseite, übergab die Papiere, den Auftrag, Instruktionen und ein Handy. Ermahnte, den LKW erneut zu kontrollieren und kein Material liegenzulassen. Eine Stunde später war der Fuhrpark auf der Straße, mehrere Anfragen beantwortet, und Stille kehrte ein. Rike reinigte eilig den Aufenthaltsraum, nutzte die kurze Verschnaufpause bis acht Uhr. Dann betrat sie das Lager, notierte sich den Bestand der Umzugskartons, prüfte die Trageriemen und Hunde. Wieder vor den Computer zurückgekehrt sichtete sie die Priorität ihrer Aufgaben. Ein LKW musste über den TÜV gebracht werden. Bei dem Zustand ein teures Unterfangen. Vom Großhändler wurden wieder Umzugskisten en gros benötigt, das bedeutete, dass ein Wagen für eine Tour flachfiel. Sie stand auf, um das Radio einzuschalten, auf der Suche nach Verkehrsmeldungen. In die tägliche Aufstellung trug sie Namen und Handys ein, überwachte den Zeitplan. Ein Blick in die Konten verriet ihr, dass es mal wieder eng werden würde. Säumige Kunden waren ihr ein persönliches Ärgernis. Mit einem grimmigen Blick startete sie das Buchhaltungsprogramm, sortierte die ordentlich abgelegten Stundenzettel aus und erstellte konzentriert Rechnungen. Eintüten und für die Post sammeln. Ein Fax lief ein, ein neuer Auftrag. Während sie mit den Rechnungen jonglierte, suchte sie aus der Informationsdatenbank, die sie selbst erstellt hatte, Hintergründe zu dem neuen Auftrag heraus, Anfahrtswege, Parkverbote, Treppenhaus, Aufzug und desgleichen mehr. Am Telefon verlangte der erste Anrufer unruhig zu wissen, wann denn nun endlich die Packer einträfen. Rike antwortete ruhig und hilfsbereit, während sie gleichzeitig die Quittungen vom Frühstück in das Kassenbuch eintrug. Und in diesem Tempo würde der ganze Tag verlaufen. ~#~ Rikes Vater strich sich über den Schnurrbart und warf einen nachdenklichen Blick in das offene Büro, wo seine einzige Tochter so virtuos rotierte. Er war immer wieder bis zur Sprachlosigkeit fasziniert von ihrem Organisationstalent und ihrer stillen Hingabe zu seiner Spedition. »Sie hat doch viel von ihrer Mutter.« Dachte er versonnen und ein wenig hilflos. Es war nicht richtig, dass ein junges Mädchen so viel arbeitete und keine Freunde hatte. Aber jedes Mal, wenn er entgegen seiner üblichen Jovialität beklommen das Thema zur Sprache gebracht hatte, hatte sie nur die grünen Augen zusammengekniffen und achtlos alle Einwürfe mit der Hand weggewischt. "Das Geschäft geht vor." Ein unumstößliches Dogma. »Ich hätte es mit einem Sohn nicht besser treffen können.« Tat er zum wiederholten Mal seiner verstorbenen Frau Abbitte. Er wünschte nur, seine kleine Rike würde etwas mehr Feuer zeigen, ein wenig Lebenslust. Nicht nur diese absolute Pflichterfüllung. »Vielleicht braucht sie einfach nur mehr Zeit?« Sinnierte er still. Wenn sie freie Zeit hätte, würde sie sich auch nicht mehr hinter der Arbeit verschanzen können! Über den Hof zog der köstliche Geruch eines scharfen Eintopfs und lenkte ihn von der Prüfung des LKWS ab, der nach der morgendlichen Tour so seltsame Geräusche von sich gegeben hatte. Rike hatte das Mittagessen fertiggemacht. ~#~ "Ginny!!" Ginny zuckte zusammen und ließ eilig die Illustrierte unter den Tisch sinken, plinkerte freundlich mit den langen, schwarzen Wimpern. "Ja, bitte?" Ein Wortschwall auf Türkisch rauschte ihr um die Ohren, künstlich erregt und angeberisch. Seufzend puzzelte sie die Bruchstücke, die sie verstanden hatte, zusammen. Tenor war, dass die Kataloge für die neue Saison noch auf dem Postamt lagen, weil es irgendein Problem mit der Adresse gab. Ginny warf den schweren Zopf auf den Rücken, schlüpfte in eine lange Strickjacke und zog die Sackkarre hinter einem Schrank hervor. "Schon gut, ich hole alles ab! Im Augenblick ist es sowieso ruhig." Sie bemerkte den verärgerten Blick ihres Onkels, ignorierte ihn aber mit einem lieblichen Lächeln. Langsam spazierte sie zum Postamt, sorgfältig jeden Schritt prüfend, denn die Plateausohlen in Kombination mit dem störrischen Sackkarren war ziemlich unfallträchtig. Geduldig reihte sie sich in die Warteschlange ein, studierte müßig die vielen Aushänge und Angebote, dann schweiften ihre Gedanken wieder zu der morgendlichen Lektüre ab. »Barcelona.« Ein verträumtes Lächeln umspielte ihre mit rosigem Gloss bedeckten Lippen. »Was für eine Stadt! Gaudi. La Sagrada Familia. Einmal dorthin reisen können.« "Ja?!" Ginny fuhr zusammen, als der Bedienstete hinter dem Schalter seine Aufmerksamkeit auf sie fokussierte. "Guten Morgen, wir haben eine Sendung hier postlagernd. Reisebüro Osman." Sie reichte die Karte hinüber. Der Mann musste mehrfach in das Lager wechseln, der Sackkarren war bis zu den Holmen beladen. "Vielen Dank für Ihre Hilfe!!" Ginny schenkte ihm ein warmes, offenherziges Lächeln und schob ihre Last gemächlich zur Straße. "Ergün!" All ihre gute Laune verflog sofort, um einem beinah vertrauten Unwohlsein und erstickender Beklemmung Raum zu lassen. Ein junger Mann, die schwarzen Locken mit Wetgel zurückgeklatscht, in einem zweiteiligen Anzug, der sicher aus einer hiesigen Änderungsschneiderei stammte, verstellte ihr den Weg. Schwarze Augen bohrten sich in ihre dunkelbraunen, die schmalen Lippen unter der Hakennase drückten deutlich Missbilligung aus. Eine dichte Wolke eines aufdringlichen Rasierwassers umnebelte ihre Sinne. Sie würgte leicht. "Wieso lässt du dich so solchen Arbeiten einspannen? Murat kann das machen!" Ginny biss die Zähne zusammen und zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln. "Metin, es war ohnehin nichts los, und dein Vater hat sich sehr erregt." "Tritt beiseite!" Ginny floh mit kaum verhohlener Erleichterung ein paar Schritte in die unbelastete Luft, um dann mit einer Mischung aus Beschämung und Verärgerung ihrem Cousin zu folgen. "Hast du schon das neue Album von Madonna gehört?" Bemühte sie sich um Konversation. "Diese Person ist abscheulich!" Zischte Metin auf Türkisch über die Schulter. Ginny seufzte. »So viel zur Konversation.« Sie heftete den Blick auf seinen Hinterkopf und fragte sich, warum er so engstirnig agierte. Sie waren beide in diesem Land geboren, kannten die Türkei nur aus Urlaubsreisen und gehörten ganz in diese Zeit, in diese Gesellschaft. Aber irgendwann musste sich der Weg gegabelt haben, ohne dass sie das bemerkt hatte. »Wie sonst könnte er sich so unerklärlich aufführen? Liegt es daran, dass er mit seinem Vater zusammenarbeiten muss?« In ihrer Gedankenversunkenheit übersah sie eine hochstehende Platte auf dem Gehweg und kam ins Stolpern. Unbeholfen fing sie sich ab, dem engen Schlauchrock, den sie mit so viel Stolz wegen seiner warmen, dunklen Farbe trug, einen hässlichen Riss im Stoff verschaffend. "Oh nein!" Unglücklich wanderten ihre schlanken Finger mit den lackierten Nägeln über den Schaden. Metin ließ eine Tirade los, was sie sich hätte brechen können, warum sie diese albernen Schuhe trug und desgleichen mehr. Ginny schluckte hart. Plötzlich war ihr zum Heulen zumute. ~#~ Gegen vier Uhr war auch die letzte Mannschaft wieder zurückgekehrt. Bei Keksen und Kaffee erläuterte Rike die Einteilung für den nächsten Tag. Ihr Vater saß zwischen seinen Mitarbeitern und lauschte der rauen, sachlichen Stimme seiner Tochter. »Kein Zweifel, wer hier der Boss ist!« Dachte er schmunzelnd. Aber man konnte sagen, was man wollte: sie war perfekt in dem, was sie sich vornahm. Während sich die Männer verabschiedeten, räumte sie bereits den Aufenthaltsraum auf, parkte alle Handys in den Ladestationen, machte sauber und sortierte die Stundenzettel weg. "Papa, wir müssen noch in den Baumarkt!" "Was hast du denn vor?" Rike strich sich über die kurzen Haare, während sie bereits benutzte Handtücher und andere Wäsche in die Waschmaschine im Umkleideraum füllte. "Ein paar Hunde müssen auf Vordermann gebracht werden. Dann brauchen wir Tragegurte, Nägel, Schrauben und anderes Zeug. Was denkst du, finden wir dort auch Scheibenwischer?" Er zwirbelte nachdenklich die rechte Spitze seines Schnurrbarts. "Scheibenwischer?" Rike programmierte die Waschmaschine. "Nummer 3 hat nur noch Fetzen." Er musste ein Grinsen unterdrücken. Noch so eine Marotte seiner Tochter, alles zu nummerieren, egal, ob Hund oder LKW. "Warum nicht? Okay, müssen wir sonst noch...?" "Bei der Druckerei liegen noch Durchschreibesätze und Briefbögen. Besser, wir nehmen Nummer 5." Rike hakte den sauber beschrifteten Schlüsselanhänger für den Kleinbus vom Schlüsselbrett. Sie würde fahren. Wie immer, seit sie den Führerschein hatte. Und zwar für PKW, LKW und Bus. Mit der üblichen Begründung, dass sie mal wieder Bewegung brauchte. ~#~ "Ginny, ich sage dir, der Typ ist plemmplemm!" Die junge Frau mit den schwarzen Dauerwellen schob energisch den Buggy vor und zurück. Ginny seufzte und versenkte den Blick in die grünen Büsche hinter dem vereinsamten Sandkasten. "Melvine, ich weiß ja, dass er komisch ist. Ich frage mich bloß, ob das nicht an mir liegt." Aus dem Buggy schraubte sich ein langgezogenes Geheul in ohrenbetäubende Höhen. "Schtscht!!" Der Buggy wurde noch schneller bewegt, als könne das Schwindelgefühl den kleinen Jungen zum Verstummen bringen. "Ich sag dir was, Ginny, du vergeudest deine Zeit in dieser Klitsche! Sieh mich an, ich habe einen reichen Mann und einen Sohn! Das ist, was zählt!" Ginny lächelte halbherzig und warf einen Seitenblick auf das zufriedene Gesicht ihrer Freundin. "Vielleicht hast du ja Recht." Murmelte sie auf Deutsch, was ihr ein tadelndes Zungenschnalzen einbrachte. "Hat dir mal jemand gesagt, dass du wie eine Ausländerin klingst?! Du hast einen richtigen Akzent!" Ginny schloss die Augen und sog den schweren Duft von Blüten ein. Sicher hatte sie einen Akzent. Weil ihr das Türkische fremd geworden war. Weil sie sogar auf Deutsch träumte. ~#~ Rike sortierte mit Gewitterwolken in den Augen verschiedene Papiere. Verärgert markierte sie die Liefernachweise, die ohne die Gegenzeichnung des Kunden abgelegt worden waren. "Wie oft soll ich ihnen das noch sagen?!" Brummte sie kopfschüttelnd. Sie lichtete die beanstandeten Blätter ab, suchte dann die Adressen heraus und faxte sie, in der Hoffnung, dass die Faksimile unterschrieben wieder eintreffen würden. Die Nachmittagstouren standen, soweit das am Vormittag absehbar war. Was ihr nun genug Zeit verschaffte, mit dem Ordnungsamt eine längere Verhandlungseinheit einzulegen, um einen Straßenabschnitt für einen größeren Umzug zu sperren. Nach zähem Ringen erhielt sie endlich die notwendige Genehmigung, flitzte mit weit ausholenden Schritten über den Hof und lud Halteverbotsschilder und Absperrbänder in den kleinen Transporter. Testete vorausschauend die Eddings zum Einsetzen der Daten. Das Klingeln des Telefons verleitete sie zu einem Spurt. Als sie elegant und kraftvoll über die Schwelle zum Aufenthaltsraum hinwegsetzen wollte, erwischte sie unglücklich einen Hund, der dort nach einer Reparatur vergessen worden war. Das Rollbrett klappte hoch, schlug ihr heftig gegen das Schienbein und brachte sie trotz Abfangversuch zu Fall. Indignierter über die Würdelosigkeit des Auftritts als über die aufkreischenden Schmerzen rollte sie sich auf die Seite, zog die Beine an und rieb unterdrückt fluchend über den dicken Stoff. Das Telefon blieb hartnäckig bei seinem Alarmruf. Rike stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen in die Höhe und humpelte auf einem Bein in ihr Büro, doch Sekundenbruchteile vor Erreichen des Quälgeistes erstarb das Läuten. "Verdammte Hühnerkacke!! Himmel, Arsch und Zwirn!!" Erschöpft stützte sie sich schwer auf den überladenen Tisch. Ihr rechtes Bein pochte nun heftig, während ihre Arme zitterten, als der Adrenalinschub nachließ. »Ganz ruhig!« Ermahnte sie sich grimmig. »Eins nach dem anderen.« Sie sackte behutsam in ihren Bürostuhl, um den Schaden, den sie davongetragen hatte, zu inspizieren. Das übergroße T-Shirt war unversehrt. Die Ellen, die den Sturz abgefangen hatten, brannten, waren aber nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Mit angehaltenem Atem beugte sie sich vor und ließ die Finger mit den sorgfältig gestutzten Nägeln über den Stoff wandern. Unverwüstlich, wie sie das von Arbeitshosen erwartete. Was nicht bedeutete, dass ihre Haut dieselbe Qualität hatte. Langsam ließ sie ihren Fuß kreisen, erfreut darüber, dass kein Knacken ertönte, oder die Schmerzen sich ins Unermessliche auswuchsen. Blieb das Schienbein übrig. Konnte sie es wagen, hier die Hosen herunterzulassen? »Nun!« Dachte Rike zynisch. »Dann wäre ich immerhin schnell beim Telefon, falls der Kunde es noch einmal versucht.« Andererseits würde es erheblichen Erklärungsbedarf geben, wenn Laufkundschaft sie so erblickte. »Wer nicht wagt...!« Sie stellte sich auf das unverletzte Bein, schälte dann mit der gebotenen Eile die Hose herunter. Ja, so was hatte sie befürchtet. Eine blutige Schramme zog sich quer über den Knochen, versprach einen ansehnlichen Bluterguss. "Mist!" Rike zerrte die Hose provisorisch wieder auf die Hüften, hopste dann zu einem Wandschrank hinüber, der vorschriftsmäßig die Piktogramme für Erste Hilfe-Einrichtung trug. Da sie als Verantwortliche in der Firma das regelmäßige Befüllen selbst vornahm, fand sich rasch das benötigte Material. Desinfektionsmittel und Verbandsmull. Sie klemmte sich beides unter den Arm, kehrte mit ungelenken Sprüngen zu ihrem Stuhl zurück und ließ erneut die Hosen herunter, um dann im Sitzen vornübergebeugt die Wunde zu behandeln. "Schöne Bescherung!" Brummte sie verärgert, warf dann einen Blick auf den Monitor, der stillen Alarm gab. Sie hatte die Verkehrsmeldungen verpasst und auch den Kontakt zu den Termintransporten noch nicht absolviert. »Nun, Schmerzen muss man in diesem Gewerbe wegstecken können!« Knurrte sie sich selbst aufmunternd zu. Also, Hose wieder nach oben, Verbandszeug in den Kasten und wieder ran an die Arbeit. Was sie zu ignorieren suchte, war das merkliche Taubheitsgefühl, das sich in ihrem Bein ausbreitete. ~#~ Ginny erklärte mit ihrem charmantesten Lächeln die Vorzüge eines Vertragshotels, als Murat hineinschlenderte. Der junge Mann war als zweite Hand eingestellt worden, ein weit entfernter Cousin von Metin, der die Hälfte seines Lebens auf dem Land verbracht hatte. Die Großstadt stellte für ihn ein immerwährendes Abenteuer da, wobei er sich selbst die Rolle eines James Bond zugeschrieben hatte. Dass er nur aufgrund der familiären Bande geduldet wurde, kümmerte ihn nicht besonders. Er zwinkerte Ginny anzüglich zu, trat hinter ihren Schreibtisch, um sich einen Kaffee auszuschenken, dabei absichtlich ihren Rücken streifend. Ginny wurde sofort stocksteif. Das Lächeln gefror ihr auf den weichen Lippen. Sie musste sich konzentrieren, um nicht den Faden zu verlieren oder die entsprechenden Ausdrücke auf Türkisch zu vergessen. Dem Mann, der für sich und seine Freundin eine Reise buchen wollte, war Murats Manöver nicht entgangen. Beide tauschten einen vertraulichen Blick aus. Ginny hasste diese Solidarität unter den Machos ihrer Landsleute. Insgeheim fragte sie sich dann, ob es bei den Deutschen ebenso zuging, oder ob man sie dort mit mehr Respekt behandeln würde. Nach Melvines sarkastischer Ansicht war das ein Kleinmädchentraum. Nichtsdestotrotz störte es sie gewaltig. Mit einem Ruck rammte sie den Stuhl zurück, direkt über die polierten Lackschuhe von Metin. "Oh, entschuldige, ich habe dich gar nicht bemerkt!" Flötete sie zuckersüß und auf Deutsch. Metin hustete mit verzerrtem Gesicht den Kaffee aus, nun nicht mehr länger James Bond, sondern ein rotgesichtiger Stenz vom Land. "Ich hole noch einen anderen Katalog, wenn Ihnen unser Angebot nicht zusagt?" Offerierte sie dem verdutzten Kunden, um dann gemächlich zu den Regalen zu schlendern und die kleine Rache zu genießen. ~#~ "Rike, Mädchen, geht's dir nicht gut?" Rikes Vater stand besorgt auf der Schwelle zum Büro und musterte erschrocken das fahle Gesicht seiner Tochter, die mit verbissener Vehemenz über ihr Schienbein strich. "Es ist nichts weiter, nur eine Schramme." "Lass mich mal sehen!" Ein Blitz aus grünen Augen traf ihn funkensprühend, aber ein Mann, der mit jeder Sorte Mensch in Kontakt kam, konnte auch einem solchen Bannstrahl standhalten, wenn er besorgt genug war. "Na los, Kind, kann nicht schaden, eine zweite Meinung einzuholen!" Lockte er sanftmütig. Rike seufzte, schälte dann langsam die Hose herunter, das T-Shirt tief hinunterziehend. Der Verband war dunkel gefärbt von eingetrocknetem Blut, sehr viel mehr, als sie erwartet hatte. Ihr Vater kniete zu ihren Füßen und pellte behutsam den Verband herunter, was Rike mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen ließ. "Tut ziemlich weh, was?" Fragte er besorgt, klopfte mit den Fingerknöcheln über die gespannte Haut. Rike knurrte, während sich ihre Augen mit Tränen beschlugen. "Mädel, das gefällt mir gar nicht!" Brummte er erschrocken und wickelte einen frischen Verband über die Wunde. "Komm, Rike, zieh die Hosen hoch, wir fahren zur Ambulanz." Rike kam schwankend in die Höhe, zerrte den Stoff hoch und wischte sich verlegen über die Augen. "Wir können nicht wegen Kinkerlitzchen einfach das Büro zumachen, Vater!" "Papperlapapp!! Noch bin ich der Boss, und ich sage, wir fahren zur Ambulanz! Wo sind die Karten?" Rike gestikulierte stumm zu einem Karteikasten, indem sie Versicherungskarten und andere Unterlagen aufbewahrte. Ihr Stolz ließ nicht zu, dass sie sich auf ihren Vater stützte, aber sie war dankbar für seine Fürsorge. "Wie ist das passiert, Rike?" Rike zog verlegen die Schultern hoch und starrte bemüht geradeaus. "Ich bin über einen Hund gestolpert." Rikes Vater ließ eine Hand auf das Armaturenbrett sausen. "Und ich sag der Bande immer noch, räumt euer Zeug weg!!" Sie seufzten unisono, wandten sich dann die Gesichter zu und lächelten. Unfälle geschahen. Es gab Schlimmeres. Wie sie beide nur zu gut wussten. ~#~ Ginny kaute gedankenverloren auf einem schon schlappen Salatblatt herum. Die Mittagspause am Weiher war eine ersehnte Befreiung aus dem stickigen Kabuff und der ermüdenden Routine. Wieder so eine Sache, die ihr Onkel nicht verstanden hatte. Dass sie mittags nicht mit ihnen essen, sondern allein irgendwo ein Lunchpaket verzehren wollte. Aber sie brauchte diesen Abstand so nötig wie die unverbrauchte Luft um sich herum. "Sonst werde ich noch meschugge da drin!" Ginny kicherte leise in sich hinein. Wenn Metin das gehört hätte! Aber sie liebte diesen Ausdruck, so lautmalerisch, wie er war, dass es sie nicht kümmerte, ob das Jiddisch oder Suaheli war. Träumend verfolgte sie das Schimmern der sonnengetränkten Wellen auf dem Wasser. "Ergün!" Ginny fuhr zusammen und kleckerte Dressing auf ihren Rock. "Oh nein!" Hastig versuchte sie, die ölige Flüssigkeit aufzufangen, tupfte mit der Serviette eilig auf den Leinenstoff. "Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken!" Mit unglücklichem Gesicht stand Gregorius vor ihr, ein Kollege aus der Berufsschule, der nun in einer Bank am Schalter arbeitete. Ginny vergaß den Fleck und lächelte strahlend. "Gregorius, lange nicht mehr gesehen!" Mit Begeisterung schüttelte sie seine Hand, musterte den jungen Litauer mit den klassischen Gesichtszügen neugierig. Sie hatte ihn von Anfang an sehr gemocht für seine artige Zurückhaltung und den Respekt, den er seinen Mitmenschen erwies. Ein Mann, der in sich selbst ruhte. Und er hatte sich nicht von ihrem übersprudelnden Temperament abschrecken lassen, im Gegenteil, er hatte sich bereiterklärt, ihr Fotomodell zu werden. "Wie geht es dir?!" Ginny bedeutete ihm mit einer Geste, neben ihr auf dem Stofftuch Platz zu nehmen. Mit einem leichten Nicken nahm Gregorius die Offerte an, korrekt in seinem Anzug mit den konservativen Tönen. "Vielen Dank, sehr gut. Und du, bist du immer noch im Reisebüro deines Onkels?" Ginny nickte eifrig und versuchte, nicht allzu trübsinnig zu erscheinen. "Fotografierst du noch immer?" Ein warmes Strahlen zog über das attraktive Gesicht. Ginny seufzte leise. Gregorius war definitiv ein Mann, der selbst im Alter noch anziehend aussehen würde. "Ein wenig, aber ich bin nicht besser geworden, wenn du das meinst!" Neckte sie ihn lächelnd. "Und wie steht es bei dir? Pläne für die Zukunft?" Eine sanfte Röte färbte Gregorius' Wangen. Verlegen nestelte er in der Innentasche seines Sakkos eine kleine Foto-Galerie heraus. "Ich habe mich verlobt. Mit Majoli." Stolz reichte er ein Polaroid an Ginny weiter, dass ihn mit einer kleinen, pausbäckigen Frau zeigte, die ebenso sehr strahlte wie er. "Sie ist sehr hübsch, wirklich. Wo habt ihr euch kennengelernt?" Ginny gab das Bild zurück, erleichtert darüber, dass man ihrer Stimme nicht die vage Enttäuschung anhören konnte, die sie empfand. "Ich besuche einen Abendkurs für Wirtschafts-Spanisch, da habe ich sie getroffen. Sie arbeitet bei einer Behörde." "Du bist sehr fleißig, Gregorius, aber das hätte ich auch nicht anders erwartet!" Komplimentierte Ginny neidlos. Dann fiel ihr Blick auf das Zifferblatt der altmodisch-winzigen Armbanduhr. "Oh du meine Güte, ich komme zu spät!" Hastig sprang sie auf die Beine, nur Gregorius' rasche Reaktion bewahrte den Leinenrock vor einer erneuten Taufe. "Tut mir so leid, Gregorius, aber ich muss los, sonst gibt es wieder Ärger!" Eilig sammelte sie ihre Umhängetasche und den Plastikbeutel mit ihrem Mittagessen ein. Gregorius, der sich ebenfalls höflich erhoben hatte, schüttelte ihr bedauernd die Hand. "Wie schade, aber das Geschäft geht vor, das verstehe ich." Ginny zwinkerte ihm aufmunternd zu. "Wir sehen uns bestimmt wieder, ich weiß ja, wo du arbeitest. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag und grüße deine Verlobte von mir!" Mit einem ausgelassenen Winken verabschiedete sie sich, um dann eilig in die Abgründe ihres Alltags zurückzukehren. ~#~ "Da haben Sie aber noch einmal Glück gehabt!" Rike empfand das nicht so, immerhin musste sie nun nach einer Spritze und einem steifen Verband die nächsten vier Wochen das Bein schonen. "Das Schienbein und die Sehnen sind sehr empfindlich." Dozierte der Arzt weiter. "Ich werde es mir merken." Knurrte sie ungewohnt verärgert, zerrte dann die Hose selbständig wieder hoch und schüttelte dem verdutzten Mann die Hand. "Danke. Einen schönen Tag noch." Rike humpelte zur Tür, wobei sie sich fühlte, als habe man ihr einen Skistiefel angeschweißt und nickte ihrem Vater zu, der die Pause zu einem Nickerchen genutzt hatte. "Und?" "Vier Wochen Schonung. Was natürlich nicht heißt, dass das Geschäft unter meiner Ungeschicklichkeit leiden wird." "Mädel, wenn er Schonung gesagt hat, musst du dich schonen. Gibt genug harte Kerle, die können auch mal was tun." Rikes Augen versprühten Feuer. "Keine Widerrede, und wenn ich dich anbinden muss." Rikes Vater schnalzte mit den Hosenträgern, deutliches Zeichen, dass er keine Diskussion akzeptieren würde. Rike verdrehte die Augen, ließ es aber dabei bewenden. ~#~ "Nanu, Herr Meyfarth, heute Morgen kauft der Chef persönlich die Brötchen?" "Ja, meine Rike hat sich das Bein aufgeschlagen, da müssen alle mit zupacken!" Grinste Rikes Vater und striegelte den imposanten Schnurrbart. "Na, das ist aber auch ein Pech!" Die mollige Verkäuferin fügte augenzwinkernd ein Extra-Brötchen hinzu. "Ich glaube, ich muss eine Sekretärin einstellen." Sinnierte Rikes Vater laut. "Eine gute Idee! Dann kann die Kleine auch mal raus." Stimmte die Verkäuferin ganz uneigennützig zu. "Aber es ist heutzutage so schwierig, gutes Personal zu bekommen!" Scherzte er mit einem Grinsen zurück. "Ich kann mich ja mal umhören." Folgte sogleich die Offerte. Rikes Vater strahlte so, dass der Schnurrbart fast die Ohrläppchen berührte. ~#~ Ginny wartete lustlos in der Schlange. Der Tag hatte sich bis zu diesem Moment als nicht enden wollender Albtraum erwiesen. Murat hatte sie einfach im Postamt mit Infobriefen stehen gelassen, weil er etwas Besseres vorhatte, wie er ihr zuckersüß und ohne einen Funken Reue versichert hatte. Ihr Onkel hatte getobt, als sie mit Verspätung und von der Hitze ermattet zurückgekehrt war. Der Buchungscomputer sei abgestürzt, woran sie natürlich auch die Schuld trug. »Dass Murat im Internet surft, hätte ich wohl nicht erwähnen sollen.« Dachte sie melancholisch. Metin hatte die erregte Auseinandersetzung gehört und mit seinem Vater diskutiert, dass der seine zukünftige Schwiegertochter nicht so anherrschen sollte. Was zum nächsten Eklat geführt hatte. Ginny seufzte leise. Ausnahmsweise hatte der Onkel mal frei heraus seine Meinung gesagt, nämlich dass sein Sohn und sie keinesfalls zusammenpassten. Was Metin natürlich nicht akzeptieren wollte. »Wie gut, dass mich keiner fragt.« Ginny hatte einfach schweigend inmitten dieses Gebrülls gesessen und vor sich hingesummt. Es kam ihr vor, als lebten andere ihr Leben, als sähe sie sich selbst dabei zu, unbeteiligt und emotionslos. "Ja?" Ginny schrak aus ihrer Versunkenheit hoch. "Ähem... ein Puddingteilchen bitte!" Die Verkäuferin zog geübt eine Papiertüte vom Haken, während sie sich mit einem anderen Kunden unterhielt. "Sag mal, Männe, hat deine Kleine nicht Sekretärin gelernt? Der Meyfarth braucht eine für seine Spedition!" "Unsere Melanie schafft bei einer Bank, da ist sie gut aufgehoben. Was ist denn mit Meyfarths Mädchen?" "Hat sich das Bein verknackst. Na, schade." Ginny horchte auf. Man suchte eine Sekretärin in einer Spedition? Spontan und trotzig beschloss sie, sich diesem Wink des Schicksals zu stellen. "Entschuldigen Sie, diese Stelle... um was geht es denn da?" Die Verkäuferin warf ihr einen irritierten Blick zu, lächelte dann aber wieder professionell. "Spedition Meyfarth, zwei Straßen weiter, fragen Sie einfach mal nach, der Chef freut sich sicher." Ginny nickte entschlossen und nahm ihr Puddingteilchen in Empfang. "Danke, das werde ich machen." ~#~ Rike plumpste schwerfällig in den Bürostuhl. Ihre Laune befand sich auf einem unbekannten Tiefpunkt. Mit diesem verdammten Stützverband dauerte alles scheinbar eine Ewigkeit! Dann wuselten noch ständig die Männer um sie herum, in der wackeren Absicht, ihr zu helfen, wobei tendenziell das Chaos eher zunahm. Rike massierte sich die Schläfen. Die übertriebene Fürsorge und Hilfsbereitschaft nagten extrem an ihrer Langmut. Sie trat mit dem gesunden Bein frustriert gegen das Tischbein des Schreibtisches, brachte einen Papierstapel ins Wanken, der sich nach einer Schrecksekunde unter den Tisch ergoss. "Verdammt!!" Rike kroch mühsam unter den Tisch und sammelte die momentan zu Flugblättern mutierten Schriftstücke ein. "Hallo!" Trällerte eine muntere Stimme unvermittelt hinter ihr, was sie so erschreckte, dass sie sich auch noch den Kopf anstieß. "Ja?!!!!" Rikes gereizter Tonfall ließ keine Zweifel aufkommen: wer auch immer in diesem höchst unglücklichen Moment zu stören wagte, hatte besser eine sehr gute Entschuldigung zur Hand. Oder er würde es bitter bereuen. Auf der Türschwelle stand eine junge Frau, in einem Schlauchkleid mit einer gestrickten Chasuble darüber, schwindelerregend hohen Plateausandalen und einem endlos langen, pechschwarzen Zopf. "Hallo." Kam es nun wesentlich verzagter, das ovale Gesicht mit der langen, geraden Nase wirkte eingeschüchtert. Rike fuhr sich wütend durch die kurzen Haare, versuchte, mit einem Rest an Würde wieder in ihren Bürostuhl zurückzukehren. "Ja, bitte?" Bemühte sie sich um einen geschäftsmäßigen Tonfall. "Ich bin wegen der Stelle hier." Die dunkelbraunen Augen fassten wieder Vertrauen, lächelten offen. Rike blinzelte verwirrt, strich sich geistesabwesend über das lädierte Schienbein. "Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz... welche Stelle?" Nun stutzte die Fremde. "Also... ich habe in der Bäckerei gehört, dass die Spedition Meyfarth eine Sekretärin sucht..." Die fröhliche Stimme verlor sich langsam. Rikes Augenbrauen zogen sich zusammen. "Davon ist mir nichts bekannt." Antwortete sie kühl. Sie musterten sich schweigend eine Weile. Schließlich nahm sich die junge Frau ein Herz und trat mit ausgestreckter Hand auf Rike zu. "Ich bin Ginny Sefer." Perplex schüttelte Rike die dargebotene schmale Hand, während Ginny über sich selbst lachte. "Na, eigentlich heiße ich Ergün, aber Ginny gefällt mir besser." Rike nickte automatisch, versuchte dann, sich in die Höhe zu kämpfen. "Frederike Meyfarth. Rike." Setzte sie dann nach kurzem Zögern nach. Ginny betrachtete interessiert Rikes Bein, das unterhalb des Knies die Hose stark spannte. "Ich habe gehört, du hast dir das Bein angeknackst." Plapperte sie unbekümmert weiter. Rike erstarrte. Dieses Mädchen unterhielt sich mit ihr, als kenne sie sie bereits! »Vielleicht ist der Vorwand mit der Stelle ja auch nur ein raffinierter Trick?« Meldete sich ihr Misstrauen alarmiert. Obwohl sie nicht danach aussah..., aber wem sah man seine Absichten schon an? Rike zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. "Wer hat denn die Stelle erwähnt?" Ginny warf schwungvoll den schweren Zopf über die Schulter und nahm unaufgefordert auf einem Besucherstuhl Platz. "Eine Verkäuferin in der Bäckerei an der Ecke. Na ja, sie hat sich mit einem Kunden unterhalten und beiläufig erwähnt, dass die Spedition Meyfarth eine Sekretärin sucht, weil du dir das Bein verletzt hast." Ginny schenkte Rike ein gewinnendes Lächeln, während sie nervös den Reißverschluss ihrer Handtasche auf und zu nestelte. Rike ließ sie nicht aus den Augen, während sie blitzschnell die Behauptungen prüfte. Konnte ihr Vater so etwas verlauten lassen haben? Zuzutrauen wäre ihm das schon. So konventionelle Vorstellungen wie das Arbeitsamt oder Zeitarbeitsfirmen waren ihm schon immer ein bürokratischer Gräuel. Und dann kam dieses Mädchen so einfach vorbei? Keine Fragen zur Bezahlung, zur Arbeit, Bewerbungsunterlagen? Rike seufzte im Stillen. Das würde noch ein sehr langer Tag werden. Sie bemühte sich um Diplomatie. "Ich weiß wie gesagt nichts von diesem Angebot, gebe Ihnen aber unsere Geschäftskarte mit. Rufen Sie doch einfach an, wenn Sie Ihre Bewerbungsunterlagen zusammengestellt haben, und dann vereinbaren wir einen Termin." Ginny zuckte ein wenig unter der Verbindlichkeit zusammen, die die Blonde (Rike!) nun an den Tag legte. Konnte das denn wirklich ein Scherz gewesen sein? Hatte sie die Unterhaltung in der Bäckerei missverstanden? Nun, so wahr sie Ginny Sefer war, sie würde auf keinen Fall einfach klein beigeben und sich davonschleichen! Auch wenn diese Rike so unnahbar war. Immer noch besser, als ständige Anzüglichkeiten in dem Reisebüro. Ginny erhob sich und lächelte strahlend, streckte die schmale gepflegte Hand aus. "Das ist ein sehr guter Vorschlag, ich werde es genauso machen." Rike kam bedächtig in die Höhe, vorgewarnt durch vorhergehende Beinahe-Stürze, fischte aus einer Schachtel eine Geschäftskarte. Zwischen Zeige- und Mittelfinger balancierend überreichte sie sie, wobei sich ihre Fingerspitzen berührten. Rike verspürte einen kleinen Schock, als ihre Augen gebannt auf die dezent lackierten, mandelförmigen Nägel starrten. »Solch ein Kontrast!« Rasch zog sie ihre schwielige Hand zurück, gab vor, sich auf der Tischplatte abstützen zu müssen. Ginny blinzelte überrascht, als sie den hastigen Rückzug bemerkte, von einer seltsamen Verwirrung erfüllt, die sie nicht in Worte fassen konnte. "Tja, dann haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit." Rike nickte, das Gesicht wieder undurchdringlich. "Ich erwarte dann Ihren Anruf." Obwohl alles gesagt schien, sahen sie einander unverwandt an, ließen Zeit verstreichen, ohne dass ihnen das bewusst wurde. Dann verließ Ginny leicht hüftschwingend das Büro. Rike konnte nicht anders, als ihr mit den Blicken zu folgen, bis sie aus ihrer Wahrnehmung verschwand. ~#~ "Vater, was ist das für eine Sache mit einer freien Stelle bei uns?" Hakte Rike beim Aufräumen am Nachmittag nach. "Hmmm?" Brummte ihr Vater geistesabwesend, zwirbelte ein Ende seines Schnurrbartes auf. "Heute war ein Mädchen hier, weil sie glaubte, wir hätten eine freie Stelle. Das habe sie in der Bäckerei gehört." Rikes energischer Ton ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie sich nicht so einfach abspeisen lassen würde. "Also?!" Die Hände in die Hüften gestützt balancierte sie auf dem unversehrten Bein, die grünen Augen dunstig vor unterdrücktem Ärger. "Könnte sein, dass ich in der Bäckerei erwähnt habe, dass du jemand zur Entlastung brauchst." Erwiderte er mit charmantem Lächeln. "Vater!! Ich bin lediglich vier Wochen auf Schonung gesetzt, das heißt nicht, dass ich Hilfe brauche! Und überhaupt, wie sollen wir eine Sekretärin bezahlen?!" Ihr Vater strich nachsichtig über Rikes dunkelblonde Stoppel, was sie zu einem gutturalen Knurren veranlasste. "Rikelein, du kriegst das schon hin! Wie war das Mädel denn so?" Mit einem trotzigen Ruck machte sich Rike frei, sortierte Teller in die Spülmaschine, während die Sehnen in ihrem Gesicht enthüllten, wie stark es in ihr brodelte. Sie konzentrierte sich auf die Arbeit, atmete tief durch. "Vater, sieh mal, wir können nicht einfach irgendwen hier arbeiten lassen, das verstehst du doch?! Wir brauchen eine Bewerbung, Unterlagen, einen Arbeitsvertrag, und letztendlich das nötige Kleingeld." Ihr Vater leerte gelassen Aschenbecher aus und gähnte laut. "Das geht schon! Und ich will, dass dich jemand entlastet!" Rike verdrehte die Augen, murmelte, sie werde Nummer 3 nun Scheibenwischer anmontieren. Während sie die Leiter vor dem Motorblock platzierte und unbeholfen die Sprossen erklomm, erneut den Verband und ihre Ungeschicklichkeit verfluchend, dachte sie nach. Ob es möglich war, ihrem Vater diese Idee wieder auszureden. Sie hatte schon genug mit ihrer Arbeit zu tun, ohne dass sie sich um ein Modepüppchen kümmern musste, das unter harter Arbeit das Öffnen einer Diet Coke verstand. Und überhaupt, außer stören und die Mannschaft ablenken würde sie sowieso nichts können! Die Scheibenwischer saßen, Rike kletterte die Leiter hinunter und wünschte sich, als sie aufräumte und das Garagentor schloss, dass Benzin nicht so teuer war, damit sie eine Spritzfahrt ins Nirgendwo machen könnte. Aber das stand selbstredend nicht zur Debatte. Also kehrte sie ins Haus zurück, wo auf dem Whiteboard in krakelig-unbeholfenen Buchstaben ihr Vater erklärte, noch einen kurzen Spaziergang zu machen. Rike seufzte, straffte dann die Schultern, legte eine Kassette in den Rekorder ein und zog ein Paket Mehl aus dem Schrank. Während Howlin' Wolf sein Schicksal beklagte, summte sie kaum hörbar vor sich hin und füllte Backbleche mit einfachen Teigklecksen. ~#~ Ginny verdrehte die Augen, als Metin und Murat erneut hinter ihr stritten. Wenn sie sich nicht konzentrierte, konnte sie kein Wort verstehen. Es klang wie das Zischen zweier Klapperschlangen, die sich um ein Revier bekriegten. Aber sie wollte es gar nicht wissen. Eine merkwürdige Melancholie befiel sie. Vor ihren Augen schwebten die Bilder aus dem Reiseführer, den sie förmlich verschlungen hatte. »Hach... ich wünschte, ich wäre jetzt in Barcelona mit meinem Fotoapparat!!« Ein heftiger Stoß in ihren Rücken katapultierte sie ruckartig in die Gegenwart zurück. Mit einem erschrockenen Schrei fuhr sie herum, um erneut mit ihrem Stuhl fest gegen die Tischkante gedrückt zu werden. Beide Männer hatten ein Handgemenge angefangen, Metin stieß Murat heftig zurück, was diesen mangels Freiraum genau gegen die Rückenlehne ihres Stuhls beförderte. Als das Gewicht endlich von ihr genommen wurde, sich der rücksichtslose Streit, nun zu einer Frage der Ehre hochstilisiert, auf den Hinterausgang verlagerte, schälte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen aus ihrem Stuhl. Durch den Tränenschleier vor ihren Augen taumelte sie in das winzige Kabinett, verriegelte die Tür hinter sich, bevor sie sich übergab. Ihre Rippenbögen, ihre Taille, ja, ihre gesamte Leibmitte schmerzte entsetzlich. Keuchend lehnte sie sich an die unverputzte Wand, strich sich selbst beruhigend mit den Handflächen über die malträtierten Stellen. Wie konnte man nur so egoistisch und brutal sein?! Sie hatten wohl nicht mal bemerkt, was sie angerichtet haben! Als sie wieder frei atmen konnte, verließ sie das Kabinett, richtete ihre Hochsteckfrisur und kehrte in das Büro zurück. Aus einer Schublade zog sie ihre eigenen Personalakten heraus, kopierte Zeugnisse und setzte zu einem aktuellen Lebenslauf an. Alles war besser, als hier arbeiten zu müssen. Selbst wenn man sich einer kühlen Walküre gegenüber sah! ~#~ Rikes Vater schlüpfte durch das kleine Tor, lauschte grinsend den rauen, klagenden Männerstimmen, die gedämpft aus dem Haus drangen. Seine Tochter hielt die Küche wieder unter Beschlag! Lautlos huschte er hinein, machte einen Abstecher in das Büro. Als er gerade müßig die Aufträge der Woche studierte, klingelte das Telefon. »Nanu, Kundschaft kurz vor sechs Uhr?!« Bevor der Apparat einen zweiten Alarmlaut von sich geben konnte, nahm er ab. "Spedition Meyfarth, guten Abend!" "Ja, das ist vollkommen richtig!" "Hmm.. Augenblick mal, Fräulein, ich wälze mal unseren Terminkalender... ja, morgen Nachmittag gegen vier Uhr passt hervorragend!" "Aber natürlich, wir freuen uns sehr, Fräulein Sefer!" Mit diebischem Vergnügen ließ er den Hörer sinken, krakelte beinahe unleserlich die Notiz auf ein Post-It, klebte ihn dann an den Monitor. Das Mädchen klang wirklich nett, und wie Marianne sie beschrieben hatte, war sie auch noch hübsch und wirkte tüchtig. Mit zufriedenem Schnurrbartzwirbeln wechselte er zum Aufenthaltsraum hinüber, um herauszufinden, was seine störrische Tochter wohl gezaubert hatte. ~#~ "Hier, Rolle, ein Rechnungsbogen. Sonst noch jemand Nachschub?" Kopfschütteln, allgemeine Aufbruchstimmung, die Männer rüsteten sich mit Handys und ihren Auftragszetteln aus. "Erste Meldung gegen zehn Uhr heute!" Erinnerte Rike, bevor sie in ihr Büro humpelte und sich in den Bürosessel sinken ließ. Als sie wie üblich die Aufträge vom Vortag mittels Buchhaltungsprogramm in Rechnungen verwandeln wollte, klebte sich ein aufdringlicher Post-It an ihre Hand. "So was!! Wo kommt das Ding her?!" Zerknittert und mit dem Ausschnitt einer Schuhsohle verziert war die Nachricht kryptisch für den Außenstehenden, aber Rike war sofort alarmiert. "VATER!!" »Unsinnig, sich aufzuregen!« Beschied sich Rike stumm. Schließlich hatten alle Mannschaften den Hof verlassen. Auch ihr Vater war längst unterwegs zur ersten Tour. So blieb ihr nichts anderes zu tun, als sich um eine korrekte Einstufung nach dem Tarifvertrag zu erkundigen, den Arbeitsvertrag aufzusetzen und die Kosten zu kalkulieren. "Sie sollte sich besser bezahlt machen!" Knurrte Rike vor sich hin, aber es kam nicht von Herzen. ~#~ Ginny strich sich erneut über ihre Hochsteckfrisur, kontrollierte ihren Rock auf etwaige Speisereste. »Bloß den ersten Eindruck beim Chef nicht vermurksen!« Mahnte sie sich stumm, während ihr Blick ungeduldig auf die Digitalziffern der Wanduhr fiel. Mit der richtigen Zeitabstimmung würde sie nur Übelkeit vortäuschen müssen, um sich rechtzeitig aus dem Staub machen zu können. Ein schlechtes Gewissen angesichts dieser Lüge empfand sie zu ihrem eigenen Erstaunen nicht. Immerhin hatten sich an diesem Tag nur zwei Kunden in das Reisebüro verirrt, also konnte man ihrer Abwesenheit kaum Geschäftseinbußen vorwerfen. Und ein weiterer persönlicher Pluspunkt schob sich ebenfalls in den Vordergrund: den abstoßenden Anzüglichkeiten von Murat wäre sie glücklich entkommen. ~#~ Rike sortierte gegengezeichnete Auftragsbögen ein, kontrollierte die Zeit. Konnte das Modepüppchen sich nicht ein wenig beeilen?! Gut, es war noch nicht vier Uhr, aber sie hielt schon jetzt den Tagesablauf auf! Mit einem Seitenblick auf ihren Vater, der sich gemütlich in einem Besucherstuhl lümmelte, lediglich ein kariertes Hemd über das blaue T-Shirt mit ihrem Firmennamen gezogen hatte, stieg ihr Unmut wieder. Außerdem schmerzte ihr Bein, der Verband juckte, und sie hatte das unbändige Verlangen, mit einer schweren Zugmaschine um den Block zu heizen!! Nicht, dass einer dieser Tagträume zur Debatte stand. Über den Hof schallte das Klappern von Absätzen auf dem abgenutzten Asphalt. "Na, das wird sicher unsere Mitarbeiterin in spe sein!" Rikes Vater erhob sich, die mächtigen Pranken in Vorfreude reibend. Für einen Moment hegte Rike den Verdacht, dass sich diese Begeisterung nicht nur aus der Entlastung für sie nährte, sondern auch einer gewissen Freude darüber, sie übertölpelt zu haben. "Unsere mögliche Mitarbeiterin!" Korrigierte sie spitz, wischte sich verstohlen die Handflächen an der Arbeitshose ab. Ginny klopfte an der offenen Tür, schlug sich dann durch den Aufenthaltsraum zum Büro durch, übersah prompt eine niedrige Schwelle, was sie ins Straucheln brachte. Rikes Vater, an solche Beinah-Unfälle mit weiblicher Kundschaft gewöhnt, fischte sie mit Gemütsruhe aus der Luft und stellte sie sofort auf die Beine zurück. "Schöne Schuhe!" Komplimentierte er die geschnürten Sandalen mit den hohen Absätzen. Ginny errötete attraktiv, streckte reflexartig die Hand aus und lächelte versöhnlich. "Ich bin aber auch zu ungeschickt, entschuldigen Sie bitte den Überfall! Ginny Sefer." "Oh, in diesem Laden ist Schwung eine wichtige Arbeitsvoraussetzung!" Konterte Rikes Vater charmant, schüttelte vorsichtig die schmale Hand. "Hermann Meyfarth, aber 'Chef' für meine Mannschaft, zu der ich Sie hoffentlich auch bald zählen kann!" Ginny kicherte geschmeichelt und bewunderte den prachtvollen Schnurrbart unverhohlen, erinnerte er sie doch an die Seelöwen im Zoo. "Und das ist meine Tochter und Geschäftsführerin, Rike!" "Frederike Meyfarth." Ergänzte Rike mit hochgezogenen Augenbrauen, ergriff Ginnys Hand nicht besonders begeistert. Lediglich ihr Händedruck entsprach ihren Empfindungen, was Ginny ein erschrockenes Ächzen entlockte. "Na gut, dann setzen wir uns mal und unterhalten uns ein wenig." Riss Rikes Vater die Gesprächsführung an sich. "Sagen Sie, Fräulein Sefer... oh, sollte ich lieber Frau Sefer sagen?" Ein verschmitztes Grinsen, das indizierte, dass man hier einen altmodischen Herren vor sich habe, der sich mit Emanzipation und all diesen komplizierten modernen Termina nicht auskannte, erstrahlte in seinem Gesicht. Rikes Finger gruben sich in Lehnen ihres Bürosessels. Ginny lachte sprudelnd und antwortete unbekümmert. "Sagen Sie einfach Ginny, Chef!" Rikes Vater grinste verschwörerisch zurück. "Gut, Ginny, dann erzählen Sie uns doch ein wenig, was Sie bisher gemacht haben." Ginny nickte, rutschte unwillkürlich auf ihrem Stuhl nach vorne, leicht wippend, während sie mit beredeten Gesten ihren Lebenslauf skizzierte. Rike musterte sie mit einer Mischung aus Verwirrung und gezwungener Abneigung. Dieses... Modepüppchen... konnte doch unmöglich hier arbeiten wollen?! Arbeitete in einem Reisebüro, ansonsten keine Berufserfahrung. Liebe Güte... der einzige Vorteil war wohl, dass sie sich leichter beeinflussen ließ als eine gestandene Person. "Haben Sie Arbeitszeugnisse?" Unterbrach sie Ginnys lebhafte Schilderung einer Kundenbetreuung unterkühlt. Ginny blinzelte, faltete verlegen die Hände. "Ja... das heißt, nein... sehen Sie, Frau Meyfarth..." "Rike." Korrigierte Rikes Vater schmunzelnd, nur ein winziges Funkeln in den Augen, das Vergnügen an dieser Konfrontation verriet. "Ja... wo war ich? Ach ja... das Problem... eigentlich ist es kein Problem, nicht wirklich!... ich habe nur... nicht... ich meine natürlich, noch nicht! ... nachgefragt..." Ginnys Augenaufschlag mit flatternden Wimpern suchte um Nachsicht. Rikes Gesicht blieb so unbewegt wie zuvor. "Mit anderen Worten, Sie kommen zu diesem Gespräch, ohne dass Ihr Arbeitgeber davon Kenntnis hat?!" Formulierte sie betont überdeutlich. Ginny lief dunkelrot an, wedelte in ihrer Aufregung mit den Händen so wild, dass sie einen Papierstapel zum Einsturz brachte. "Oh du meine Güte!! Das tut mir so leid!! Ich wollte wirklich nicht...!! Bitte denken Sie nicht, dass ich immer so bin!!" Hastig warf sie sich auf die Knie, um den Schaden wiedergutzumachen. Rike, die sich unter vorwurfsvollem Schweigen bereits Parterre begeben hatte, fischte eisig Dokumente. Ginny sammelte ebenfalls hastig Papier ein, suchte verstohlen nach Blickkontakt, aber Rike wich verbissen aus. Als sich ihre Finger nach der Suche des letzten Dokuments streiften, zuckten sie beide erschrocken zurück. Mit einem leichten Knurren schnappte Rike das Blatt, gleichgültig, wie zerknittert es nach dieser Behandlung sein würde. Als Rike sich endlich wieder mit einem Mindestmaß an Würde in die Senkrechte gequält hatte, saß Ginny bereits still und beschämt in ihrem Stuhl. Der knielange Rock war hochgerutscht, die elegante Hochsteckfrisur aus dem Lot geraten und hing nun halbmast an einigen wenigen Haarnadeln. "Na, na, Ginny, das kann jedem mal passieren, kein Beinbruch!" Dröhnte Rikes Vater gutgelaunt und vollkommen unbeeindruckt. "Ich hole mal ne Kanne Eistee, damit wir den Staub wegspülen können, und dann erklär ich Ihnen, was bei uns so zu tun wäre." Mit einem leichten Grunzen schraubte er sich aus dem Besucherstuhl hoch und spazierte gemächlich zur Küchenzeile im Aufenthaltsraum hinüber. Rike zog die Augenbrauen zusammen. »Noch subtiler ging es wohl nicht!« Zürnte sie stumm. Um sich dann auf ihre Rolle zu besinnen. In geschäftsmäßigem Ton eröffnete sie die nächste Runde, ignorierte standhaft den verzeihungsheischenden Blick aus den dunkelbraunen Augen. "Nun, ich bin sicher, Sie haben einige persönliche Unterlagen mitgebracht, die uns unsere Entscheidung erleichtern werden..." Ginny blinzelte, begriff dann und nickte eilig, gleichzeitig aus ihrer Umhängetasche einen großen Umschlag ziehend. "Richtig! Natürlich! Hier, meine Zeugnisse und mein Lebenslauf!" Mit einem strahlenden Lächeln reichte sie die faltenfreie Mappe über den Tisch. "Vielen Dank." Reagierte Rike steif, legte die Mappe beiseite, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. "Ich sollte vielleicht der Arbeitsplatzbeschreibung unsere Gehaltsvorstellungen voranschicken." Eröffnete sie das nächste Schlachtfeld. "Wir bezahlen nach BAT, Gruppe 7. Dazu kommt die Gestellung von Arbeitskleidung." Ginny nickte, lächelte und retournierte. "Das hört sich sehr gut an. Wären Sie wohl so freundlich, mir das Gehalt auf mein Alter und Familienstand bezogen zu berechnen?" Gegen ihren Willen zuckten Rikes Augenbrauen anerkennend in die Höhe. Ein Modepüppchen sicher, ungeschickt dazu, aber nicht vollkommen unbrauchbar. Natürlich hatte sie die aktuellen Tarifzahlen vorbereitet, nun hieß es noch, die persönlichen Umstände zu kalkulieren. Als sie eine Zahl nannte, schwankte ihr Vater mit einem Tablett hinein. Zuvorkommend bediente er die beiden Frauen. "So, ich sehe schon, Sie sind gleich zur Sache gekommen?! Sehr gut!! Dann kann ich ja nun ein bisschen von der Arbeit plaudern!" Und schon erzählte er in Zeitraffer die Firmengeschichte, die Eckdaten wie Mitarbeiterzahl und Arbeitszeiten, die alltäglichen Aufgaben wie auch die speziellen. Rike schwieg und nippte an ihrem Eistee. Sie beobachtete Ginny scharf über den Glasrand hinweg, wie diese mit den langen, gepflegten Fingern das Glas hielt, immer wieder aufmerksam nickte und stetig lächelte. "Wir sollten eine Führung machen." Unterbrach sie die fast schwärmerische Darstellung ihres Vaters, stellte mit einem Knall ihr Glas ab und stemmte sich in die Höhe. Ginny schoss ebenso hoch, wobei ihr die eigene Umhängetasche entglitt, um mit dumpfen Laut auf den Boden zu rutschen. Verlegen ging Ginny in die Knie, um hastig ihre Habseligkeiten aufzusammeln, da sich die Tasche entsprechend den ungeschriebenen Gesetzen des Universums im Sturz gedreht und ihren Inhalt verstreut hatte. Rike verdrehte die Augen und warf einen genervten Blick zu ihrem Vater hinüber. Aber der grinste bloß und lachte mit dröhnendem Bass. "Ich glaube, so oft hat noch niemand unseren Linoleum inspiziert, was, Rikelein?" Ginny kicherte verlegen, klopfte sich hastig ab, bevor ihr dämmerte, dass diese Geste möglicherweise als unhöflich angesehen werden konnte. In Rikes Augen zogen sich Gewitter zusammen, die sich noch nicht entschieden hatten, ob ihre Blitze dem eigenen Vater oder dieser ungeschickten Person gelten würden. Steif schritt Rike voran, erklärte das Firmengelände und wies betont daraufhin, dass man sich bei der Arbeit des Öfteren schmutzig machen würde. Und dass selbstredend die vorgeschriebene Arbeitskleidung zum eigenen Schutz ohne Ausnahme zu tragen wäre. Ginny nickte artig und lächelte, während sie innerlich aufseufzte. Man würde sie nicht einstellen, sinnlos, sich Illusionen hinzugeben. Nach dieser Vorstellung würde sie sich selbst ja nicht mal beschäftigen wollen!! Und diese Rike verachtete sie mit jedem Blick aus diesen gefleckten, grünen Augen. »Wie ein Wald, in dessen dichtes Grün die Sonne Schatten sprenkelt!« Lächelte sie geistesabwesend. »Ein herrliches Photo würde das geben... wie Artemis...« "... Ginny?!" Erschreckt fuhr Ginny zusammen, lachte entschuldigend. Rikes Vater grinste, während Rike kaum merklich den Kopf schüttelte. "Ich fragte, ob Sie den Führerschein haben?" Ginny senkte verlegen den Kopf und verneinte. "Oh, das ist nicht dramatisch, ist keine Voraussetzung für den Job." Tröstete Rikes Vater jovial. "Nun, ich denke, wir machen für heute Schluss, oder?" Rike übernahm nun energisch das Ruder, sich an den marginalen Rest ihrer Selbstbeherrschung klammernd. "Sie haben unsere Visitenkarte noch? Gut. Wenn Fragen sind, rufen Sie bitte jederzeit an. Wir werden uns mit Ihnen in Verbindung setzen, wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind." Ginny verstand die Aufforderung und reichte artig die Hand. Während Rikes Vater ein aufmunterndes Zwinkern für sie hatte, blieben Rikes Augen distanziert und kühl. "Vielen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit zur Vorstellung gegeben haben. Ich würde mich wirklich freuen, von Ihnen zu hören." Lächelte Ginny, auch wenn es schmerzte. Vorsichtig durchmaß sie den Hof, stieg durch das kleine Tor, drehte sich dann impulsiv erneut um. Rike stand mit vor der Brust verschränkten Armen noch immer mitten auf dem Platz und kontrollierte, dass sie das Anwesen verließ. Deprimiert ließ Ginny den Kopf sinken, reagierte nicht einmal mehr, als sich ihr schwerer Zopf endgültig aus den Nadeln löste und ihr auf den Rücken schlug. ~#~ "Vater, sie ist unmöglich!! Allein ihre Ungeschicklichkeit ist untragbar! Sie hat das Haus niedergerissen, bevor wir acht Uhr haben!" "Rike, das Mädel war aufgeregt, das ist alles. Sei nicht so streng." Rike paradierte trotz schmerzhaften Stichen in ihrem Bein auf und ab, während sie an den Fingern weitere Kritikpunkte aufzählte. "Sie kann nicht mal Auto fahren. Sie hat keinerlei Erfahrungen im Logistikbereich. Sie hat ihren Arbeitgeber nicht mal informiert, dass sie sich anderweitig umsieht. Sie ist viel zu schwächlich, um hier mitzuhelfen, und sieh dir bloß mal ihre Fingernägel an!! Das wird doch nie was!!" Rike bremste abrupt und zog mit grimmiger Miene die Zeitung aus den Pranken ihres Vaters. "Das ist keine Hilfe, sondern eine Strafe, Vater." Rikes Vater musterte seine Tochter schweigend. "Frederike, ich sage das nicht gerne, aber ich denke, du lässt dein professionelles Urteilsvermögen von persönlichen Vorurteilen beeinflussen." Rike verschlug es die Sprache. Mit ungläubig aufgerissenen Augen starrte sie ihren Vater an, der seelenruhig die Zeitung zusammenfaltete. Das hieß, sie sei unfair?! Voreingenommen?! Nicht sachlich?! "Wir haben immerhin sechs Monate Probezeit, lass uns doch mal abwarten, ob Ginny dich nicht überzeugt." Rike stakste zur Spülmaschine hinüber, lud dampfende Teller aus, mit einer Spur mehr Schwung, als erforderlich war. Das Angebot war vollkommen akzeptabel. Sie verlor nicht ihr Gesicht und niemand konnte sachfremde Erwägungen unterstellen, wenn sich abzeichnete, dass sie Recht gehabt hatte. "Also, was denkst du, Rike? Soll ich ihr Bescheid sagen?" "Ich brauche noch bis zum Ende der Woche, um die Unterlagen zu sortieren und alles vorzubereiten. Und letztendlich müssen wir noch besprechen, wann sie hier anfangen kann. Möglicherweise hat sie eine längere Kündigungsfrist." "Och, würde mich wundern, würde mich wirklich wundern!" Brummte ihr Vater und erklomm dann pfeifend die Treppe ins Obergeschoss. Rike presste die Lippen aufeinander und beschloss, die Werkzeugkästen in den Fahrzeugen auf Vollständigkeit zu prüfen. Das hielt von müßigen Gedanken ab. ~#~ Ginny spielte mit einer leeren Filmschachtel, drehte sie immer wieder zwischen den schlanken Fingern hin und her. »Ich könnte mir mal wieder die Nägel lackieren!« Trieb ein Gedanke schwerfällig durch ihren müden Kopf. Es war stickig und unangenehm warm. Zu allem Überfluss war der winzige Ventilator, der die einzige Waffe gegen das schwül-heiße Klima darstellte, ausgefallen. Seufzend fuhr sie sich mit einem Taschentuch über die Stirn, die Wangen und den leicht gerundeten Ausschnitt ihrer Bluse. Alles klebte, juckte, selbst ihre Kopfhaut prickelte ununterbrochen. Die Kundschaft, die sich an diesem Tag zu einer Visite aufgerafft hatte, war im Großen und Ganzen mürrisch und leicht reizbar gewesen, was Ginny der Wetterlage zurechnete. »Jetzt am Meer zu sein, im Schatten zu lagern und vor sich hinzuträumen...!!« Wenigstens waren weder ihr Onkel, noch dessen Sohn oder gar Murat in der Nähe. Das Telefon erwachte lärmend zum Leben. Ginny meldete sich ausgesucht höflich auf Türkisch. Am anderen Ende der Leitung vernahm sie ein verblüfftes Einatmen, dann formulierte die Stimme langsam die Bitte, zu Ergün Sefer durchgestellt zu werden. »Ach du liebe Güte!« Schaltete Ginny mit Verspätung. »Das war doch...!!!« "Entschuldigung, ich habe Ihren Namen nicht gleich verstanden, Frau Meyfarth! Hier spricht Ginny!" Ergänzte sie dann eilig. "Wirklich?! Oh, das ist ganz wundervoll!!" "Aha. Ja, sicher!!" "Nein... nein... ich werde es noch heute in Angriff nehmen." "Ja, natürlich melde ich mich wieder." "Vielen Dank!! Ich freue mich sehr!!" Ginny legte mit klopfendem Herz den Hörer auf, blinzelte mehrfach, dann stieß sie heftig den Stuhl nach hinten und sprang jubelnd in die Höhe. Um mit begeistertem Trällern in Tanzschritte zu verfallen. Über den unangenehmen Teil dieser Botschaft wollte sie in diesem Augenblick nicht nachdenken. ~#~ "Wie bitte?! Was hast du getan?!" Ginny lächelte vergnügt vor sich hin und fütterte das dickliche Kind auf ihrem Schoß mit Keksen. "Gekündigt." Melvine schüttelte die schwarze Mähne, frisch onduliert, und schnalzte missbilligend mit der Zunge. "Du bist wahnsinnig, Mädchen! Was wird dein Onkel sagen?" Ginny grinste unverfroren, wischte eine lose Strähne aus der feuchten Stirn. "Oh, er war keineswegs so entsetzt, wie ich erwartet hatte. Schien sogar froh zu sein, was er natürlich nicht zeigen wollte. Immerhin ist er von Metins Idee, mich heiraten zu wollen, nicht begeistert und meine Kündigung kommt ihm da gerade zupass." "Aber was hat Metin gesagt?" Melvine erkannte erste Anzeichen von Unzufriedenheit bei ihrem Sprössling und stopfte vorsorglich einen weiteren Keks in den verschmierten Mund. Ginny trällerte triumphierend. "Gar nichts, denn er befindet sich auf Geschäftsreise in Istanbul. Und da meine Eltern auch in die Türkei gefahren sind, bin ich in meiner Entscheidung vollkommen frei!" "Tsstss, Mädchen, du machst dich noch unglücklich. In einer Spedition! Da sind doch nur schmutzige, arme Schlucker! Das ist kein guter Umgang!" Ginny kicherte amüsiert, blies die widerspenstige, schwarze Strähne aus den Augen. "Ach, Melvine, ich werde meinen Märchenprinz schon rechtzeitig genug finden!" Beruhigte sie lachend. ~#~ Rike starrte auf die Wanduhr. Natürlich, das Modepüppchen würde am ersten Arbeitstag prompt zu spät kommen! Ein befriedigtes Grinsen stahl sich in ihr Gesicht. Das sich rapide verflüchtigte, als sie das Stakkato eiliger Absätze auf dem Asphalt vernahm. Eine atemlose Ginny stürzte in den Aufenthaltsraum, wo sie beinahe Rolle über den Haufen rannte. "Oh, Verzeihung!! Ich bin zu ungeschickt!" Rolle, vollkommen perplex, lief feuerrot an und stammelte seinerseits eine Entschuldigung, was ihm ein strahlendes Lächeln eintrug. Rike seufzte merklich. Klasse, mit diesem Auftritt würde sich keiner mehr auf die morgendliche Einsatzbesprechung konzentrieren!! Sie räusperte sich scharf. "Also, wenn ich dann mal um Aufmerksamkeit bitten dürfte?! Die Touren für heute sind angeschlagen, erste Meldung heute gegen Elf! Handys nicht vergessen, und Marco, wenn du noch einmal verpennst, den Auftrag abzeichnen zu lassen, wirst du Nummer 4 über den TÜV bringen, klar?!" Erschüttertes Stöhnen bei einem drahtigen, stark behaarten Mann, bedeutete der TÜV doch stundenlanges, eintöniges Warten und endlosen Papierkrieg. Aus den Augenwinkeln bemerkte Rike, wie ihr Vater Ginny eine Tasse Kaffee reichte und einladend in Richtung Frühstücksbuffet wies. "Okay, los geht's! Tour 2, ihr habt eine Vollsperrung durchs Ordnungsamt, Meldung, wenn es Probleme gibt, klar?" "Klar, Chefin!" Der Aufenthaltsraum leerte sich langsam, die schweren Motoren brachten Asphalt und Garage zum Dröhnen und Beben. Ginny lächelte unsicher, als sie sich unversehens Rike allein gegenüber fand. "Guten Morgen." Wisperte sie unsicher. "Morgen." Knurrte Rike kurz, sammelte geübt benutztes Geschirr ein, schaltete den Fernseher aus und faltete die Zeitungen. "Gehen Sie schon mal ins Büro, hängen Ihre Sachen auf und sammeln die Faxe ein!" Ginny nickte eifrig und huschte in den Nachbarraum, sich rechtzeitig ermahnend, die Füße über die Schwelle zu heben. Rike befahl sich, geduldig zu sein, denn sie wollte sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, unfair Druck auszuüben. Ginny hängte ihre Tasche rasch in den offenen Schrank, dann sah sie sich nach dem Faxgerät um. Rasch sammelte sie die Blätter ein, legte sie ordentlich auf den Schreibtisch. Rike lauerte im Türrahmen und musterte sie, als Ginny sich unbehaglich herumdrehte. Aber Rike schwieg, schob sich mit leichtem Hinken an ihr vorbei und gestikulierte knapp, Ginny solle im zweiten Bürostuhl neben ihr Platz nehmen. Und dann wurde sie mit Erklärungen, Informationen und Details bombardiert, die ihren Kopf zu protestierendem Brummen veranlassten. Rike, die durchaus bemerkte, dass sich die dunkelbraunen Augen beschlugen, die glasige Konsistenz von Überforderung und Unverständnis annahmen, straffte sich. "Nun gut, ich denke, wir werden ganz einfach langsam einsteigen. Heute werden Sie kleine Handreichungen übernehmen und den Tagesablauf kennenlernen." Ginny nickte dankbar, lächelte Rike an. Die wandte sich abrupt ab, spulte die Routine ab, ohne Ginny noch einmal zu beachten. ~#~ Ginny hielt sich den Kopf, unterdrückte Tränen, während sie auf der Eckbank im Aufenthaltsraum kauerte. Lustlos löffelte sie in der Nudelsuppe, die Rike so beiläufig bereitet hatte. Natürlich hatte Rike in der Mittagspause Besseres zu tun, als ihr Gesellschaft zu leisten. Sie stellte gerade Umzugskartons für eine Tour zusammen, kordelte handliche Pakete, notierte auf die Einkaufsliste notwendige Utensilien. Ginny fühlte sich nutzlos und verlassen. ~#~ Rike rollte geübt das rot-weiße Flatterband auf, kalkulierte im Geist die notwendigen Ersatzkäufe. Zusammen mit dem TÜV würde es wohl eine teure Woche werden! Gedankenverloren kratzte sie über den dichten Stoff ihrer Arbeitshose, wo sich der Verband durchdrückte. »Das Modepüppchen wird sicher bald aufgeben.« Konstatierte sie nachdenklich, aber unerklärlicher Weise bereitete der Gedanke ihr keine Genugtuung. ~#~ Ginny stemmte sich in die Höhe, räumte ihren Teller in die Spülmaschine. "Ginny, du hast es so gewollt, also reiß dich zusammen und versinke nicht in Selbstmitleid!!" Kommandierte sie sich streng, wobei in ihrem Unterbewusstsein eine kleine Ginny-Ausgabe mit Schnurrbart und Paradeuniform entstand. Das erheiterte sie so, dass sie leise kichern musste, was den schmerzhaften Druck in ihrem Kopf löste. Und ihren Kampfgeist anspornte. Sie krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und überquerte den Hof, entschlossen, wenigstens bei den einfachen Arbeiten im Lager zu helfen. ~#~ Rike schüttelte verärgert den Edding, aber dieser war nicht bereit, die noch jungfräulich weiße Spitze mit roter Farbe zu tränken. "Mistding!" "Darf ich mal?" Ginny streckte lächelnd die Hand aus, was Rike mit einem konsternierten Blick quittierte. "Sicher." Knurrte sie betont gleichgültig, reichte den unwilligen Stift weiter. Ginny nickte leicht, schüttelte erneut. "Wie lautet die Aufschrift, bitte?" Fragte sie höflich nach. "17.08., von 7.00 bis 18.00 Uhr." Brummte Rike knapp. Ginny summte leise, als sie den Stift ansetzte, dann mehrfach die Spitze tief in den Schaft sinken ließ, bis der sich durch die Pumpbewegung mit Farbe gefüllt hatte. Schwungvoll malte sie die entsprechende Nachricht auf. Rike starrte in einer Mischung aus Verärgerung und Scham auf die Ziffern. »Was zum Geier...?!« Ginny gab den Stift zurück und schmunzelte kaum wahrnehmbar. "Ist eine neue Technik, damit man die Nachfüllpatronen einsetzen kann." Zwitscherte sie leichthin. "So." Kommentierte Rike betont beiläufig, bereits mit der Überprüfung der aufgestapelten Hunde befasst. Ginny grinste unverhohlen, als sie Spuren von Farbe auf Rikes Wangen erkannte. Beschwingt durch diese ersten Anzeichen einer menschlichen Regung erneuerte sie die Aufschrift auf den Bodenplatten der Hunde, die den Besitzer kennzeichneten. "Oh, ich glaube, diese Rolle ist lose." Bemerkte sie kritisch. Rike stellte sich ihr gegenüber, bereits den Schraubenzieher zückend, der in ihrem schweren Werkzeuggürtel auf seinen Einsatz wartete. Bewundernd verfolgte Ginny, wie Rike geübt Schrauben befestigte, ein paar Spritzer Öl verteilte. Dass sie selbst dabei einen Stift der alten Sorte schüttelte, vergaß sie vollkommen. Und als sie nun den Schriftzug erneuern wollte, spritzte blaue Farbe über den Hund und auf Rikes Unterarme. "Ach du Schreck!" Ginny erbleichte, als Rike innehielt, blau gepunktet, langsam den Kopf anhob und sie unergründlich ansah. "Ich wische es ab, Augenblick! Ich bin wirklich ..." Hastig kramte Ginny nach einem Taschentuch. Rike schüttelte den Kopf. "Ich werde es abwaschen. Hoffentlich ist es wasserlöslich." Sie stapfte über den Hof, eine untröstliche Ginny auf den Fersen, die Entschuldigungen plapperte. Rike beugte sich über das Handwaschbecken und rubbelte energisch mit der Seife über die Haut. Als sich das Blau nur zu einem schmierigen Film verteilen ließ, schrubbte sie mit solcher Vehemenz, dass ihre Haut sich dunkelrot färbte. Eigentümlicherweise war sie nicht einmal verärgert. Mit einigem Abstand betrachtet konnte man es durchaus als eine Slapstick-Performance betrachten, die unvermeidlich gewesen war. Das Modepüppchen schien diese Art von Unfällen förmlich anzuziehen. »Wenn sie nur aufhören würde, ohne Atem zu schöpfen eine Entschuldigung nach der anderen abzuspulen!« Als sich abzeichnete, dass das Blau vorläufig den Sieg davontrug, wollte sie noch einen Rest an Haut behalten, trocknete sich Rike ab. "Gut jetzt!" Unterbrach sie barsch Ginnys Monolog, was dieser die Sprache raubte. "Wir haben Arbeit zu tun." Mit diesem abschließenden Worten wechselte sie wieder auf den Hof, gab über die Schultern die letzte Instruktion. "Bleiben Sie im Büro und nehmen die Anrufe entgegen." Ginny nickte mit hängenden Schultern. »Vermasselt.« ~#~ "Nun, was denkst du?" Rike kaute gründlich auf ihrem Körnerbrot herum, bevor sie sich zu einer Antwort bequemte. "Zähe. Nicht gerade geschickt, aber zähe." Ihr Vater zwirbelte den imposanten Schnurrbart zufrieden. Sah ganz so aus, als hätte sich die Kleine zumindest nicht gleich den Schneid abkaufen lassen. ~#~ Die nächsten Tage lernte Ginny mit Eifer die fremden Arbeitsweisen, gewann immer mehr Sicherheit beim Umgang mit Kunden und dem unvermeidlichem Papierkram. Natürlich wachte Rike wie ein Racheengel über jeder Aktion, aber die missbilligend zusammengezogenen Augenbrauen verblassten immer mehr zu einer Erinnerung. Lediglich die handwerklichen Arbeiten wurden Ginny verwehrt. Was sie nicht daran hinderte, unaufgefordert in der Garage oder dem Lager zu erscheinen und Rike oder den Männern wissbegierig über die Schultern zu schauen. Rike starrte ratlos auf Nummer 1, die neueste Maschine, die seltsame Klopfgeräusche von sich gab. Um beurteilen zu können, ob sie sich verloren, wenn sich der Lastzug in Fahrt befand, schnappte sie sich den Schlüssel. Erklomm, frisch von ihrem Stützverband befreit, wieder gelenkig das Fahrerhaus und startete die schwere Maschine. Vorsichtig setzte sie aus der Garage zurück, bis nah an die Hauswand, als im Spiegel aus dem toten Winkel urplötzlich Ginnys panisch zitternde Gestalt auftauchte. Mit einem Fluch trat Rike hart die Bremse durch, brachte den Lastzug zu einem ruppigen Halt und sprang aus dem Fahrerblock. Ginny klebte noch immer an der Wand, totenbleich und zitternd. Die schweren Türen befanden sich nur 30 Zentimeter vor ihrer Nasenspitze. "Verdammte Scheiße, du dumme Kuh, was tust du hier?! Weißt du nicht, dass man sich nie, niemals in den toten Winkel eines LKW stellt?!" Rike, ebenso fahl, packte Ginny heftig bei den schmalen Schultern und zerrte sie grob hinter dem Wagen hervor, schüttelte sie dann vehement. "Du dämliches Weib, ich hätte dich zerquetschen können!!" Brüllte sie mit überschlagender Stimme, ohne zu bemerken, dass ihre Attacke Ginnys Hinterkopf immer wieder gegen die Wand schmetterte. Ginny in ihrem Schock bemerkte es auch nicht. Das Einzige, was in ihrem vor Panik Amok laufendem Verstand greifbar war, war die riesige, unaufhaltsame blaue Mauer, die ihr die Luft zu rauben drohte. Sie begann, hysterisch zu schreien und zu schluchzen, was Rike aus ihrem Rausch riss. "Scheiße!! Scheiße!! Komm, hör auf, es ist ja nichts passiert! Komm schon, Kleine, alles ist okay!" Rike versuchte, Ginny sanft Richtung Hauseingang zu dirigieren, während die schrillen Schreie an ihren ausgefransten Nerven zehrten. Aber Ginny verharrte wie angewurzelt, nicht erreichbar für derart zarte Gesten. Mit einem unartikuliertem Schrei ohrfeigte Rike Ginny hart, als sie es nicht mehr aushielt. Und Ginny verstummte tatsächlich. Tränenblind tastete sie zittrig nach der malträtierten Wange. Rike schluckte schwer. Ihr war auch nach Heulen zumute. Ihre Glieder schmerzten von dem krampfartigen Beben, das sie befallen hatte. "Tut...tut mir leid...ich...hab die Nerven...verloren..." Wisperte Rike heiser, rang mühsam um Fassung. Völlig weggetreten nickte Ginny mit fahlem Lächeln, plapperte unter Schock, das mache nichts, sie sei ja so ungeschickt... Belanglose Phrasen. Um sich dann erneut orientierungslos zu verlieren. Rike biss sich auf die Lippen, als Ginny wieder anfing zu zucken. »Irgendwie muss ich sie ins Haus bekommen!« Wischte der Gedanke durch ihren leergefegten Verstand. Und als habe Ginnys Körper erkannt, dass sie nicht länger Herrin ihrer Sinne war, schwankte er Trost suchend in Rikes zögerliche Arme. Die umklammerte Ginny heftig, schob die Rechte in den schlanken Nacken unter den schweren Zopf, damit sich Ginnys Kopf keinesfalls von ihrer Schulter hob. Dirigierte sie dann langsam und unbeholfen in diesem intimen pas de deux zum Eingang. Mit dem vagen Gefühl, wieder die Kontrolle über die Situation zu gelangen, platzierte Rike Ginny auf die lange Bank unter dem Fenster. Zog mit einer Hand die Jalousette hinunter, um Ginny dann beharrlich auf die Sitzpolster niederzudrücken. "Leg dich lang, ja?!" Ginny weigerte sich, die Sicherheit von Rikes Körper aufzugeben, wehrte sich dagegen, allein gelassen zu werden. Mit verlegener Röte auf den Wangen und mehr als hilflos strich Rike also über den knochigen Rücken unter dem dünnen Stoff der Bluse, wiegte sich behutsam. "Ginny, bitte, du musst dich hinlegen, okay? Ich bin doch hier! Alles ist okay, dir kann nichts mehr passieren! Ich verspreche es." Endlich drang sie durch den Nebel in Ginnys Kopf durch, konnte sie dazu bewegen, sich tatsächlich flach zu legen. Allerdings war Ginny nicht bereit, Rike loszulassen. Sie umklammerte mit unvermuteter Kraft Rikes Hand, hinderte sie daran, hinaus zu laufen und den Lastzug wieder in die Garage zu fahren. Rike gab sich schließlich nach stummen Kampf geschlagen. Ihre zittrigen Knie wirkten in ihren eigenen Augen auch nicht gerade zuverlässig. Also schöpfte sie die Reichweite von Ginnys Arm voll aus, um sich neben Ginnys Kopf auf die Bank zu kauern, die Beine eng vor den Oberkörper gezogen. Für eine Weile starrten sie schweigend vor sich hin, Ginny scheinbar an die Decke, einen Arm quer über die Brust gelegt. Die Finger eisern um Rikes Handgelenk geschlungen, während die an die gegenüberliegende Zimmerwand sah. "Meine Mutter ist bei so einem ähnlichen Unfall gestorben." Rike zuckte unter der piepsigen, brüchigen Stimme zusammen, die sie nur mit Mühe als ihre eigene erkannte. Ginny reagierte auf dieses Bekenntnis nicht wahrnehmbar. "Tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe." Murmelte Rike, plötzlich körperlich vollkommen erschöpft. Sie ließ ihren Kopf in den Nacken sinken und schloss die Augen. "Mir ist kalt." Durchbrach Ginny mit klappernden Zähnen flüsternd die erneute Stille. Rike schlug die Augen auf, stellte die Füße auf den Boden. "Lass mich los, und ich hole dir..." "NEIN!!" Ginnys Angstschrei brach sich an den Wänden, erschreckte sie beide. Rike zog unbehaglich die Schultern hoch. "Aber... wie soll ich denn sonst...?" Ginny drehte sich erstaunlich gewandt auf die Seite, zog die Knie an und robbte an Rike heran, gab keine Sekunde deren Handgelenk frei. Wie ein verängstigtes Tier kuschelte sie sich dann an Rikes Brust in den schweren Leinenstoff des Arbeitshemds, als wollte sie sich in der anderen Frau verkriechen. "Okay, okay..." Murmelte Rike verwirrt, schlang die Arme um die Zitternde. Und so verharrten sie, bis Ginny gleichmäßig atmete. ~#~ Rikes Vater brummte verstimmt, als er bemerkte, dass der Lastzug mit offenem Fahrerhaus die Zufahrt zur Garage versperrte. Er hieß seine Leute aussteigen und schon Feierabend machen, erklomm das Fahrerhaus und manövrierte Nummer 1 wieder auf den üblichen Stellplatz. Dann folgte Nummer 2. »Seltsam, sieht Rike gar nicht ähnlich?!« Resümierte er beunruhigt und betrat das Haus. Zu seinem völligen Erstaunen fand er die beiden jungen Frauen aneinandergekauert in der hintersten Ecke der Sitzbank, fest schlafend, die Gesichter von Anstrengung und Schrecken gezeichnet. Verwirrt zwirbelte er den Schnurrbart, als er auf dem bleichen Gesicht seiner Tochter Spuren von Tränen entdeckte. Besorgt wickelte er mit überraschender Behutsamkeit eine einfache Decke um das ungleiche Pärchen. Das verlangte nach einer Erklärung. Aber solange die beiden schliefen, blieb ihm nichts zu tun, als die Reste des Tagwerks aufzuarbeiten. ~#~ Rike blinzelte orientierungslos, als etwas blechern klapperte, von einem unterdrückten Grunzen begleitet. Sie wollte sich aufsetzen, als ihr ihre schmerzenden Glieder verrieten, dass sie offenkundig bereits die Position innehatte, wenn auch sehr unbequem. Um die Ursache zu erforschen, öffnete sie die verklebten Augen und senkte den Kopf, um verwirrt auf einen schwarzen Schopf zu blicken. Ihre unwillkürlichen Bewegungen weckten auch Ginny auf, die sich ebenfalls langsam aus ihrer Starre löste. Als sich ihre Blicke trafen, zunächst verwirrt, dann erkennend und schließlich verlegen, rutschten sie rasch auseinander. "Gut, Mädels, gerade rechtzeitig zu einem guten Cappuccino!" Dröhnte Rikes Vater von der Küchenzeile herüber, begleitet vom unterdrückten Blubbern einer Kaffeemaschine. Rike fuhr sich über die kurzen Haare, um dann erschrocken aufzuspringen. "Nummer 1!" "Steht in der Garage." Beschied ihr Vater kurz, konzentrierte sich auf die Aufgabe, die Tassen zum Tisch hinüber zu balancieren. Ginny entwirrte unterdessen ihre Glieder, streckte sich verstohlen, fühlte sich völlig zerschlagen. Mit Gewalt drängte sie die Erinnerungen zurück, die sich einstellen wollten, warf einen Seitenblick zu Rike hinüber, die mit gesenktem Kopf offensichtlich beschämt neben ihr kauerte. "Nun, runter damit, so lange es noch heiß ist!" Kommandierte Rikes Vater und tränkte den Schnurrbart mit der Milchschaumschicht. Gehorsam nippten beide an ihren Tassen, sorgsam jeden Blickkontakt vermeidend. "So, und nun will ich wissen, was hier los ist." Ginny spürte, wie sich Rike neben ihr straffte. "Ich habe Nummer 1 rausgefahren und Ginny nicht gesehen." Noch bevor Ginny den Gedanken vollenden konnte, eine Beteiligung an dem Unglück zuzugeben, verdüsterte sich das sonst so joviale Gesicht von Rikes Vater zu einem wahren Orkan. "Das kann ja wohl nicht wahr sein!!" Rike starrte geradeaus, steif, wie ein Soldat, der erwartete, bestraft zu werden und sich nicht die Blöße geben wollte, sich zu verteidigen. "Ausgerechnet DU?!!" Rikes Vater brüllte nun im Bass, Schaum flog aus seinem sich sträubenden Bart. Ginny zuckte zusammen und fing unwillkürlich an zu zittern. Aber auch das feste Aufeinanderpressen der Lippen konnte nicht verhindern, dass ihr wieder ein ängstliches Schluchzen entschlüpfte. Rikes Vater, der sich in seinem Schreck und Zorn vollkommen auf seine Tochter fokussiert hatte, fuhr besorgt herum, als Ginny mit der Verlorenheit eines ausgesetzten Kätzchens zu weinen begann. Helle, wimmernde Töne absonderte. Auch Rike wandte sich ihr in Zeitlupe zu, schob dann zögernd eine Hand auf den gekrümmten, bebenden Rücken und klopfte hauchzart zur Beruhigung. "Ist sie verletzt?! Hast du sie erwischt?!" Merklich leiser, aber nicht weniger in Rage, katapultierte sie die Stimme ihres Vaters in die Wirklichkeit zurück. "Nein... nein, ich habe sie nicht berührt. Sie hat sich nur erschreckt..." Rike verlor den Faden. "Schöne Bescherung!" Brummte ihr Vater, nun ebenso hilflos angesichts der untröstlichen Ginny. "Was macht ihr auch für Sachen, Kind?!" Rike zuckte mit den Achseln, was sollte sie auch sagen? Geschehen war geschehen, und sie hatte sich den heutigen Tag beileibe nicht so vorgestellt, aber was zählte das schon? "Ich bringe sie nach oben in mein Zimmer. Ihre Familie ist in Urlaub, und ich will nicht, dass sie in dem Zustand allein ist." Nahm Rike wieder das Heft in die Hand. Etwas zu tun, war schon viel besser, als nutzlosen Selbstvorwürfen und Erinnerungen nachzuhängen. Und es gab Dinge, an die sie niemals erinnert werden wollte. Die sie niemals wieder denken wollte. ~#~ Ginny ergab sich erschöpft dem kräftigen Arm, der sich um ihre Taille legte und sie eine sich windende Treppe hinauf geleitete, um sie dann mit sanfter Gewalt über einen Flur in ein Zimmer zu dirigieren. Vage registrierte sie, dass der Raum irgendwie kahl und unpersönlich wirkte. Dann fand sie sich flach auf einer Matratze wieder. Rikes Gesicht schwebte über ihr, die grünen Augen mit den braunen Sonnenflecken schimmerten dunstig, matt. In plötzlicher Furcht, sie könne sich ganz auflösen, hob Ginny schwerfällig einen Arm an, legte ihre Handfläche auf Rikes Wange, murmelte flehend die Bitte, sie nicht allein zu lassen. Rike, die von dieser Geste vollkommen überrascht wurde, verstand die leisen Worte nicht, strich aber verstohlen über die schwarzen Haare und bemühte sich um ein Lächeln. "Du bleibst heute Nacht hier. Ich suche dir etwas zum Anziehen raus, ja?" Rikes Stimme war so ungewohnt sanft, dass Ginny nickte und fahl lächelte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie drehte ihren schmerzenden Kopf auf die Seite, um zu beobachten, wie Rike steif nach einem riesigen T-Shirt und Unterhosen in einem Kleiderschrank angelte, der mit fast militärischer Ordnung bestückt war. Rike kehrte zu ihr zurück, kniete sich vor das Bett. "Etwas Besseres habe ich leider nicht. Soll ich dir das Bad zeigen?" Ginny nickte mühsam, ließ sich dann angestrengt auf die Beine helfen und über den Flur in das Badezimmer schieben. Rike verharrte verlegen auf der Türschwelle. "Wenn etwas ist, ruf, ja? Ich warte vor der Tür." Von so viel Schamhaftigkeit amüsiert lächelte Ginny geisterhaft, wandte sich dann dem Waschbecken zu. »Wasser.« Stellte sie fest. »Ins Gesicht spritzen!« Empfahl ihr Instinkt nach einer geduldigen Wartepause, ob sich etwa intuitiv eine Reaktion ergeben würde. Als das kalte Leitungswasser ihre Haut benetzte, jagte der Schock langsam wieder Geschäftigkeit in ihre versprengten Gedanken. Vorsichtig schälte sie sich aus Bluse, Rock, Strumpfhose und Unterwäsche. Behutsam rieb sie sich mit einem Waschlappen ab, versicherte sich, dass sie vollkommen unversehrt war. Und diese Sicherheit ließ ein paar Freudentränen über ihre Wangen rinnen, gefolgt von einem erleichterten Kichern. Langsam streifte sie das überdimensionierte T-Shirt über, das sie wie ein Kind in den Kleidern ihrer Eltern wirken ließ. Auch der Schlüpfer war zu groß, was sie aber unbekümmert hinnahm. Für eine Übernachtung würde es gehen. Ächzend sammelte sie dann ihre Wäsche auf und verließ langsam das Badezimmer. Rike wartete wie angekündigt an der Tür, einen angespannten Zug im Gesicht. "Ich nehme deine Sachen und stecke sie in die Waschmaschine, ja? Dann sind sie morgen frisch! Nur noch in den Trockner, und..." Verlegene Röte auf ihren Wangen verhinderte weitere Ausführung, als fürchte sie, in Plappern zu verfallen. Ginny grinste müde über die Scheu, die Rike zu haben schien, was ihren Eindruck auf andere beeinflusste. "Danke." Murmelte sie, taumelte dann die wenigen Schritte zu Rikes Bett und ließ sich fallen. Mit einem Rest an Disziplin zog sie ihren schweren Zopf heran, löste ihn aufstöhnend. Nadeln stachen wie Splitter hervor, der Dutt hatte sich längst verabschiedet. Als sie aufsah, stand Rike vor ihr, in einem vergleichbaren Shirt, was sie allerdings durch ihre kräftige Statur sehr viel stärker ausfüllte. "Kamm oder Bürste?" Wisperte sie unsicher, in jeder Hand das entsprechende Objekt auswiegend. "Kamm." Nickte Ginny, nahm matt das Werkzeug an sich und versuchte, die Wellen mit den Zinken zu durchdringen. Rike saß neben ihr auf der Bettkante, musterte sie schweigend. "Ich werde dann ins Gästezimmer gehen, also..." "Warum bleibst du nicht hier?!" Ginny erschrak selbst über den hysterischen Unterton in ihrer Stimme, als sie sich heftig zu Rike herumdrehte. Die zuckte perplex zusammen, zog dann die Schultern hoch. "Hier ist kein Platz..." Murmelte sie, wich Ginnys Blick aus. "Doch, dein Bett ist groß genug für zwei. Ich will nicht allein sein!!" Ginnys Fingernägel gruben sich in Rikes Schulter, noch bevor sie bewusst diese Entscheidung traf, aber dann erkannte sie, dass sie sich tatsächlich fürchtete. Mitten in der Nacht aufzuwachen in diesem fremden Zimmer und sich nicht orientieren zu können. "Ich weiß nicht..." Wand sich Rike verlegen, vollkommen verunsichert. Sie hatte noch niemals zuvor das Bett mit irgendjemandem geteilt. Es schien ihr zu vertraulich, zu intim. Allein der Gedanke, dass jemand sie in ihrem Schlaf betrachten könnte, ungeschützt und hilflos...!! Andererseits... war sie es Ginny nicht schuldig? Wenn sie nun Albträume bekam und sich im Haus verlief? Gar die Treppe hinabfiel?! Ginny zupfte vehement an Rikes Ärmel, völlig gleichgültig gegenüber dem Gedanken, dass sie sich kindisch benehmen könnte. "Ich nehme nicht viel Platz weg, wirklich!" Bettelte sie schrill. "Okay, okay. Ich bleibe." Und als habe dieser Konsens sie beide beruhigt, huschte unisono über ihre Gesichter ein mutiges Lächeln. ~#~ Rike schlug die Augen auf, als ihr Wecker verstummte. Etwas war anders als sonst. Ungewohnte Hitze umfing sie. Ein fremdes, lebendiges Gewicht glühte an ihrer rechten Seite, schmiegte sich eng an sie. Atem schlug sich gleichmäßig auf ihrer Brust nieder, während sie behutsam versuchte, ihre taube rechte Schulter zu bewegen, auf der Ginnys Kopf ruhte. Im Schlaf glitt Ginnys rechter Arm von Rikes Taille höher, schob sich knapp unter ihre Brust, was Rike die Schamröte in das Gesicht trieb. Vorsichtig, um nicht grob zu wirken, grub sie ihren rechten Arm unter Ginnys Körper aus, glitt über den knochigen Rücken hoch, in der Absicht, sanft darauf zu klopfen und die Schlafende zum Aufstehen zu animieren. Allein, unterwegs verirrte sie sich in der wahren Flut an schwarzen Strähnen, die sich bis zu den Hüften ergossen und ihr Fortkommen behinderten. Rike starrte an die Zimmerdecke, versuchte angestrengt, sich zu konzentrieren. Sie musste nun aufstehen, koste es, was es wolle! Den linken Ellenbogen in die Matratze stemmend schraubte sie ihren Körper langsam hoch, ließ Ginny auf die Seite gleiten, wo die beide Arme an die Brust zog und im Schlaf Unverständliches murmelte. Rike stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus. »Meine Güte, als hätte ich direkt in der Sonne gelegen!! Wie kann ein Mensch nur so viel Körperwärme ausstrahlen?!« Sie schwang sich aus dem Bett und huschte eilig hinaus. ~#~ Als Ginny ein dumpfes Dröhnen vernahm, saß sie senkrecht im Bett. Augenblicke später realisierte ihr Verstand, dass das Geräusch von den Lastzügen stammen musste. Was bedeutete, dass sie verschlafen hatte! Hastig wickelte sie sich aus der verdrehten Decke, durchmaß das Zimmer und hängte sich mit aller Kraft an den schweren Holzrollladen. Die Fensterflügel aufstoßend verfolgte sie, wie drei Lastzüge den Hof verließen. Rike winkte kurz, dann kehrte sie ins Haus zurück. "Sie hätte mich ruhig wecken können!" Schmollte Ginny, sich selbst nicht ganz überzeugend, dann sah sie sich ausgiebig in Rikes Zimmer um. Allein, es gab nichts Besonderes zu entdecken. Auf dem Stuhl neben der Tür wartete ordentlich gefaltet ihre Wäsche vom Vortag, daneben thronte der Kleiderschrank. Das einzige Regal enthielt Fachbücher, die altmodische Anlage wurde nur von wenigen Kassetten flankiert, die allesamt Blues-Musik der 50-er und 60-er Jahre transportierten. Energisch riss sich Ginny los, huschte mit ihren Kleidern ins Badezimmer, wo sie sich anschließend einen strengen Zopf band, um für ihre Verspätung Abbitte zu leisten. ~#~ Der Tag verlief ungewohnt ruhig. Zu Rikes Überraschung plauderte Ginny so leichthin wie immer, arbeite gleichzeitig konzentriert. Sie selbst, die an das Schweigen der verlassenen Räume gewöhnt war, konnte diesem steten Redefluss nur mit ungläubigem Staunen begegnen. "Hör mal, ich muss rüber und an Nummer 1 nachsehen, was diese Geräusche verursacht." Kündigte Rike an, vergaß längst, dass man sich zuvor immer distanziert gesiezt hatte. Ginny zuckte zusammen, stand dann ebenfalls auf. "Ich komme mit." "Das ist nicht nötig... immerhin..." Rike verstummte verwirrt, weil sich in Ginnys gleichmäßig sanften Gesichtszügen eine steile Falte des Zorns abzeichnete. "Ich will diese Dinge auch lernen. Sonst bin ich nichts weiter als ein Zuckerpüppchen, oder?!" Rike lief feuerrot an, weil dieser scharfe Replik ihr Vorurteil vollkommen enttarnt hatte. "Also?!" Ungeduldig mit einer Fußspitze auf das Linoleum tippend wartete Ginny im Türrahmen. Rike, zu perplex und verlegen, um aufzubrausen, huschte an ihr vorbei und verließ das Haus. ~#~ Grübelnd beugten sie sich über den offenen Motorblock. Ginny hatte einfach die hochhackigen Sandalen abgestreift, den Rock hoch bis zum Po gerafft und balancierte nun auf der anderen Seite der Leiter. Rike musterte die komplizierte Technik scharf, aber ihrem ungeschulten Auge wollte nichts Ungewöhnliches entgegenspringen. "Ich weiß nicht..." Brummte sie enttäuscht, kletterte dann die Leiter hinab. Ginny folgte ihrem Beispiel. "Wenn es bei der Fahrt auch Geräusche macht, finden wir die Ursache vielleicht." Rike klappte die Leiter zusammen und schleppte sie mühelos zu ihrem Haken an der Flanke der Garage. Ginny warf einen zögerlichen Blick zur Fahrerkabine hoch. Nummer 1 war für große Umzüge oder Fernumzüge ausgerüstet, eine kräftige Zugmaschine mit hohem Einstieg. Die Sandalen in einer schlanken Hand erklomm sie mühsam das Fahrerhaus, kauerte sich in die äußerste Ecke, von dem hochmodernen Cockpit beeindruckt. Rike kletterte geübt auf die Fahrerseite, startete automatisch die Maschine, lauschte konzentriert auf jedes Geräusch. Tatsächlich mischte sich ein unregelmäßiges Klopfen in den satten Bass. "Anschnallen." Murmelte sie geistesabwesend, was Ginny mit fliegenden Fingern erledigte. Die Atmosphäre aus Diesel, Getriebeöl und Schweiß wirbelte Bilder von Wüstenabenteuern in ihrer Phantasie auf, da setzte Rike den Koloss in Bewegung. Flüssiges Schalten, kontrolliertes Eindringen in den nicht vorhandenen Verkehr vor der Hofausfahrt, leichtes Rangieren, dann schwebten sie hoch über dem Asphalt dahin. "Nur eine Runde ums Viertel, ich hab immerhin das Hoftor aufgelassen." Verkündete Rike beiläufig. Dass sie selbstredend Garage und Haus verschlossen und die Alarmanlage angeschaltet hatte, erwähnte sie nicht. Ginny zog die Beine auf die Seite, musste ein aufgeregtes Hopsen auf den stabilen Polstern mit Macht unterdrücken. "Toll!" Strahlte sie befreit, strich vorsichtig über das Armaturenbrett, die Ablagen und Befestigungen. "Und sogar Funk!" Rike grinste nachsichtig über die unverhohlene Begeisterung, fädelte geschickt in den Verkehr ein. "Und, hörst du was?" Erkundigte sich Ginny nach einigen Augenblicken des andächtigen Schweigens. Rike schüttelte den Kopf. Die grünen Augen huschten immer wieder über die Spiegel, überwachten den Verkehr. "Ist das jetzt gut?" Ginny versuchte, aus den energischen Gesichtszügen eine Antwort zu lesen. "Wenn er bis zur nächsten Inspektion durchhält. DAS ist 'gut'. Allerdings habe ich ein 'ungutes' Gefühl, damit einen großen Umzug zu organisieren." "Und nun?" Ginnys Mundwinkel zogen sich unbemerkt nach unten, als sie bereits wieder die Hofeinfahrt erreichten. "Mein Vater muss ihn sich noch mal ansehen. Er hat auch einen Freund bei einer Werkstatt, vielleicht kann der helfen." Rike wurde wieder verbindlich, eine Reaktion, die Ginny inzwischen als Indiz erkannte, dass sich Rike ärgerte. Also schwieg sie und kletterte dann artig aus dem Fahrerhaus. Rike reichte ihr den Haustürschlüssel, schloss aber die Tür zum Fahrerhaus erst wieder, als Ginny in der Haustür stand, um dann Nummer 1 wieder einzuparken. An diesem Mittag waren sie allein, denn bei großen Umzügen kehrte keine Mannschaft vor dem Nachmittag zurück. Die sommerliche Hitze schien auch die Kundschaft einzuschläfern, nur eine einzige Anfrage trudelte ein. Rike, die es nicht aushielt, untätig zu sein, schnappte sich Kundenkarte und Einkaufsliste. "Komm, wir besorgen dir jetzt Arbeitskleidung!" Ginnys zweifelnd-unsicheren Blick quittierte sie mit einem Lächeln, das man für boshaft hätte halten können. ~#~ Ginny trabte neben Rike her, einen Griff der Einkaufsbox fest umklammernd. Die Sicherheitsschuhe waren nicht so schwer, wie sie angenommen hatte, auch wenn sie jetzt ein wenig kleiner als Rike war. Die Latzhose, die sie sich ausgesucht hatte, belastete sie weit schwerer in ihrer dichten Beschaffenheit. Überhaupt war sie das Tragen von Hosen nicht gewohnt, aber die vielen praktischen Taschen hatten sie sofort in ihren Bann gezogen. Was man da alles verstauen konnte!! Eine wetterfeste Weste umschlang ihren Körper trotz der Hitze, unpassend zu ihrer Bluse, aber sie wollte die neuen Kleider gleich tragen. Rike grinste noch immer unbewusst vor sich hin. Sich an dem Gesichtsausdruck der Verkäufer in dem Fachbekleidungsgeschäft, das eher einem riesigen Lager mit schwindelerregend hohen Stahlregalen glich, ergötzend, als sie Ginnys schmale Gestalt gemustert hatten. Aber nun hatten sie etwas Passendes gefunden, und Rike fühlte sich ungewohnt beschwingt und freudig erregt. Obwohl ihr Einkaufen üblicherweise ein Gräuel war. ~#~ Die nächsten Werktage verliefen in Harmonie, die Arbeit ging ihnen immer reibungsloser von den Händen, als wäre es niemals anders gewesen. Rikes Vater staunte nicht schlecht, wenn er die beiden jungen Frauen schmutzig unter einem Lastzug fand, die ungewohnt muntere Stimme seiner Tochter hörte, die erklärte, was man erkennen konnte. »Scheint so, als hätte meine Rike eine Freundin gefunden!« Dachte er zufrieden und zwirbelte seinen Schnurrbart. ~#~ "Rike, wann müssen wir denn am Samstag?!" Rike rieb sich über die Stirn, die Hitze stumm verwünschend, die wie ein bleiernes Glutband über der Stadt lag. "Also, Aufbau gegen acht Uhr. Frühstück vorher hier." Freudiges Gemurmel, dann verließen erschöpfte Männer das Haus. Ginny zog fragend die Augenbrauen hoch, wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. "Was ist denn am Samstag?" Erkundigte sie sich wissbegierig. Rike, die bereits auf Autopilot die Unordnung beseitigte, runzelte die Stirn. "Oh, klar, das habe ich dir noch nicht erzählt. Am Samstag ist Stadtteilfest hier, und wir helfen immer beim Aufbau. Die ganzen Geschäfte, Nachbarschaftsvereine, Clubs und die Kirchengemeinden stellen was auf die Beine. Du bist natürlich auch eingeladen!" Ginny nickte begeistert, dann verdüsterte sich ihr Gesicht. "Oh...ich würde schon gern...aber ohne Begleitung... wie lange dauert es denn?" Rike warf die Spülmaschine an und streckte sich knackend. "Oh, manchmal bis tief in die Nacht. Die Musik hört wegen der Sperrzeitverordnung um Eins auf, aber sonst..." Als sie Ginnys unsicheren Gesichtsausdruck bemerkte, ließ sie sich ihr gegenüber auf einen Stuhl sinken. "Warum übernachtest du nicht hier? Ich mache das Gästezimmer klar, und du kannst so lange auf dem Fest bleiben, wie du willst?" Insgeheim hoffte sie, dass Ginny zusagen würde, denn dann hätte sie endlich einmal jemand, mit dem sie sich ein wenig unterhalten könnte. Zu ihren Nachbarn oder den Vereinen hatte sie nur oberflächlichen Kontakt und dem üblichen Austausch von Gerüchten und Befindlichkeiten konnte sie nichts abgewinnen. In der Vergangenheit war die Feier zumeist darin ausgeartet, dass sie die Angetrunkenen aus ihrer Mannschaft einsammelte, für die restliche Nacht unterbrachte und sich allgemein wie eine Gouvernante gebärdete. Was ihr eigentlich nicht zusagte, aber sich kaum vermeiden ließ, wenn man sich für die Kindsköpfe verantwortlich fühlte. "Ich werde es mir überlegen." Versprach Ginny mit aufmunterndem Lächeln. ~#~ Rike wischte sich Schweiß von der Stirn, als die letzte Bank aufgeklappt war, dehnte sich ächzend. Ein aufgeregter Ruf ließ sie herumfahren, als sie bereits ein frischer Duft einhüllte. Ginny kam ihr entgegen, mit rosigen Wangen, die langen Haare nur durch zwei große Klammen zurückgerafft wehten offen bis zu den Hüften. Umschmeichelten ein mit Mohnblumen bedrucktes Sommerkleid, leicht ausgestellt ab den Hüften. "Guten Morgen!" »Pfefferminze!« Stellte Rike fest und schämte sich für ihren eigenen Aufzug, obwohl das rational gesehen völlig unsinnig war. Immerhin konnte sie wohl kaum im Kleidchen arbeiten! "Morgen." Zwinkerte sie und wischte sich erneut über das Gesicht, absichtlich zum schmutzigen Tramp verkommend. Aber Ginny beachtete das nicht weiter, sondern drehte sich um Aufmerksamkeit heischend vor Rike. "Schau mal, das habe ich selbst geändert, was denkst du?!" Rike grinste, nickte dann anerkennend. "Wie eine Erdbeertorte!" Ginny schmollte, stampfte heftig mit der linken Sandale auf, hoher Keilabsatz, die Schnürbänder raffiniert um die grazilen Knöchel gewunden. "Das ist nicht nett!" Rike lachte, kehrte Ginny den Rücken zu und spazierte davon. Über die Schulter reizte sie die Freundin. "Nun, Fräulein Erdbeer-Baiser, ich brauche einen Eistee und eine Dusche. Wenn du dich anschließen möchtest?!" An dem trotzigen Klappern der Absätze erkannte Rike, dass ihr Ginny tatsächlich folgte. ~#~ Gegen Mittag verschwand die unbarmherzige Sonne hinter Wolken, was den erschöpften Menschen eine leichte Entlastung durch eine sanfte Brise versprach. Rike hatte sich eine lose flatternde Marlene-Hose übergestreift, darüber trug sie ein schmuckloses Shirt in dem gleichen Smaragdton wie die Hose. Segeltuchturnschuhe komplettierten ihren Auftritt. Ginny fand, dass dieser Anzug nicht gerade vorteilhaft wirkte, zu quadratisch im Schnitt, die Farbe zu aufdringlich, aber Rike maß ihrer Kleidung den üblichen Mangel an Aufmerksamkeit bei. Während Rike sich trotz der Hitze eine Bratwurst vom Grill der Freiwilligen Feuerwehr gönnte, plauderte Ginny mit den Damen von der Kirche und kostete den Kartoffelsalat. In der nachmittäglichen Wärme schlenderte man über den kleinen Basar, applaudierte der Vorführung der Feuerwehrleute, die in voller Montur eine Übung absolvierten. Unterhielt sich im Schatten der Sonnenschirme und lauschte unterschiedlichen Musikdarbietungen. Mit dem Abend kehrte auch willkommene Abkühlung ein, der Basar machte einem provisorischen Tanzparkett Platz. Das Repertoire der aufspielenden Band war breitgefächert, einem Walzer folgte "Rock around the Clock", dann wieder etwas für die Pärchen, der "Entertainer" für die Kinder... Ginny wippte begeistert mit, fand sich bald auf der Tanzfläche wieder, als ein paar mutige Herren herausfanden, dass sie die Aufforderungen nicht ablehnte. Überrascht stellte sie fest, dass niemand Rike fragte. Die nippte noch immer an einer Cola, lediglich der rechte Fuß verriet, dass sie keineswegs unempfänglich für das Musikprogramm war. "Warum tanzt niemand mit Rike?" Fragte Ginny unverblümt ihren Tanzpartner, einen jungen Feuerwehrmann mit spärlichem Flaum auf der Oberlippe. "Oh, sie tanzt nicht. Macht sie nie." ~#~ Rike beobachtete leicht besorgt, wie Ginny mit leuchtenden Augen an dem Apfelwein nippte, den ihr jemand spendiert hatte. »Hoffentlich hält sie das nicht für Apfelsaft!« Dachte sie leicht verärgert. Aber das Erdbeertörtchen war schließlich volljährig, oder?! ~#~ Ginny sprudelte vor Lachen über, sie hatte das Gefühl, sich noch niemals zuvor so amüsiert zu haben. Alles schien so leicht, so schwerelos!! Rike hockte noch immer wie ein Standbild herum, obwohl die Musik so mitreißend spielte?! Das konnte sie nicht zulassen. Entschlossen drehte sie zu Rike ab, schlängelte sich tapfer durch die Tanzenden. Die Band hatte nun zu Musik gewechselt, die offenbar dem Altersdurchschnitt der Anwesenden entsprach. Aber Ginny maß diesem Umstand keine Bedeutung zu, wichtig war doch nur, dass man sich dazu bewegen konnte!! ~#~ Rike warf einen ungläubigen Blick in Ginnys gelöstes Gesicht, umfasste unwillkürlich die schlanken Hände, die sich auf ihre eigenen gelegt hatten. "Tanz mit mir, ja?" "Aber... aber... ich tanze nicht!" Protestierte Rike verloren, als sie sich schon auf die Füße gezogen fand. Ginny machte sich nicht die Mühe, etwas zu entgegnen, sondern schob sich einfach rückwärts in die Menge, verzauberte Rike mit ihren langen, schwarzen Wimpern. "Ich kann nicht tanzen, hörst du? Komm schon, lass mich laufen, ja?" Rike versuchte es mit einem freundlichen Appell, aber Ginny lächelte bloß wie ein Sphinx. Als das nächste Lied einsetzte, der Bass den Boden erschütterte, lösten sich Ginnys Hände von Rikes, ihre Arme wanderten über den Kopf. Ginny bog sich im Rhythmus, verlor sich in der Musik, die langen Haare wild umherschleudernd, ein entrücktes Lächeln im Gesicht. Rike zögerte, kam sich ausgeschlossen und hölzern vor angesichts der wogenden Masse um sie herum. Unsicher, fast verstohlen, reckte sie ebenfalls die Arme über den Kopf, imitierte die leichten Tanzschritte. Als hätte Ginny auf dieses Manöver gewartet, rückte sie näher an Rike heran, streifte immer wieder mit den Fingerspitzen Rikes. Und Rike folgte vorsichtig Ginnys Vorbild, tanzte aus der Hüfte heraus, den Blick auf die dunkelbraunen Augen konzentriert, den weich geschwungenen Mund, der jede Liedzeile kannte. ~#~ Whole Lotta Love (Led Zeppelin) You need cooling, Baby I'm not fooling. I'm gonna send you, Back to schooling. Way down inside, Honey you need it. I'm gonna give you my love, I'm gonna give you my love. Wanna whole lotta love. You've been learning, Baby I been learning. All them good times, Baby baby I've been yearning. Way way down inside, Honey you need I. I'm gonna give you my love, I'm gonna give you my love. Wanna whole lotta love. You've been cooling, Baby I've been drooling. All the good times, I've been misusing. Way way down inside, I'm gonna give you my love. I'm gonna give you every inch of my love, Gonna give you my love. Wanna whole lotta love. Way down inside woman, You need love. ~#~ Rike schlenderte beschwingt nach Hause, dirigierte Ginny, mit der sie lediglich über die verschränkten kleinen Finger verbunden war, umsichtig neben sich her. Ginny kicherte trunken, den Kopf in den Nacken gelegt, suchte nach Sternen. "Keine Sterne!" Beklagte sie sich schmollend, was Rike mit einem nachsichtigen Brummen beantwortete. "Zu viele Wolken, Ginny. Pass auf, Laterne!" Mit raschem Griff verhinderte Rike die Beinahe-Kollision, was Ginny zu einem nicht enden wollenden Kichern reizte. "Mann, du hast ganz schön einen im Tee." Kommentierte Rike trocken. "Hatte keinen Tee! Nur Apfelsaft!" Trällerte Ginny unkontrolliert. Rike verdrehte die Augen. ~#~ Rike streifte sich gerade das T-Shirt über den Kopf, als sie Ginny stöhnen hörte. Mit einem gottergebenen Seufzer huschte sie auf den Flur und betrat ohne zu Klopfen das Gästezimmer. Ginny kauerte auf dem Bett, die Haare in ein geknöpftes Nachthemd verheddert, hielt sich den unbedeckten Bauch. "Rike!" Winselte sie unglücklich, hilflos. "Ich bin schon da!" Rike betrachtete zögernd das Knäuel vor ihr. Die ungebärdigen Strähnen hatten sich um die Knopfleiste gewickelt, das Nachthemd selbst war um Ginny gedreht und diese schien gleich dem weißen Porzellangott opfern zu müssen. Schüchtern umschlang Rike Ginnys nackte Taille, was diese reflexartig zusammenzucken ließ. "Keine Angst, ich schaff dich erst mal ins Badezimmer." Raunte Rike hastig. Während Ginny bereits würgte, zog Rike an Nachthemd und Strähnen. "Verdammt, das gibt's doch nicht!!" "Abschneiden!!" Wimmerte Ginny keuchend, bereits mit beiden Händen Halt an der Toilettenschüssel suchend. "Das ist nicht dein Ernst!" "Rike!" Gurgelte Ginny gequält, ein Laut, der angesichts der heftigen Zuckungen des entblößten Leibs bei Rike keinen Zweifel am Fortgang der Ereignisse aufkommen ließ. Rasch säbelte sie mit einer Schere die hinderlichen Strähnen ab, zerrte das Nachthemd im letzten Augenblick herunter, bevor Ginny sich übergab. ~#~ Geduldig wischte Rike kalten Schweiß von Ginnys Gesicht, rieb den Nacken ab, während sie sich bemühte, die langen Haare in einen Zopf zu flechten, eine völlig neue Erfahrung. "Tut mir so leid!" Keuchte Ginny unglücklich. "Schon gut." Konterte Rike trocken. "Das ist Routine." Als sich Ginny auf die Fersen zurücksinken ließ, zittrig durch die Erschütterungen, die ihren Leib durchlaufen hatten, tupfte Rike ihr behutsam die Lippen ab. "Fertig?" Ginny nickte, eine Hand auf den Magen gepresst. "Dann komm, ich bring dich ins Bett." Rike legte sich Ginnys Arm über die Schultern, fasste sie vorsichtig um die Hüften und geleitete sie über den Flur. "Kann... kann ich nicht bei dir schlafen?" Rike zögerte einen Augenblick, bereit, eine ganze Liste an Einwänden vorzubringen. Aber dann betrachtete sie das bleiche, leicht grünstichige Gesicht und vergaß sie alle wieder. Ohne ein Wort schob sie Ginny in ihr eigenes Bett, schlüpfte dann neben sie. Ginny, die trotz der Hitze durch die lange Zeit auf den Fliesen des Badezimmers durchgefroren war, drehte sich sogleich auf die Seite und kuschelte sich eng an Rike. "So kalt!" Murmelte sie matt, bevor sie in Schlaf fiel. Rike wartete eine Weile, lauschte auf die tiefen Atemzüge, dann wagte sie es, sich behutsam zu Ginny umzudrehen, um auch einschlafen zu können. ~#~ Müde Sonnenstrahlen stahlen sich durch Ritzen im schweren Holzrollladen, brachten winzige Staubpartikel zum Tanzen und kitzelten Rike an der Nase. Deren innere Uhr auf Wecken programmiert war, auch wenn sie keinen elektronischen Warnruf vernahm. Als sie sich schon genüsslich räkeln wollte, erinnerte sie ein leises Brummen daran, dass sie nicht allein war. Wirre, schwarze Strähnen glitten über ihren Hals, als Ginny sich herumdrehte, einen Arm um Rike schlang und sich an sie schmiegte. Das allein hätte Rike nicht stocksteif erstarren lassen, aber im Laufe der etwas unruhigen Nacht hatte sich ihr T-Shirt wie so oft hochgeschoben. Sodass Ginnys entblößter Arm nun direkt auf Rikes nacktem Bauch zu liegen kam. Offenkundig nicht bequem genug, robbte Ginny ein wenig höher, um Rikes rechte Brust als Kissen zu benutzen, schob ihre schlanke, rechte Hand sanft höher. Rike schnappte nach Luft, als ein fremder Schauer eine Gänsehaut auslöste. Das war zu viel!! Zu nahe, zu warm, zu ungewohnt!! Aber sie konnte sich in ungekannter Scheu nicht überwinden, die Tiefschlafende grob von sich zu stoßen und einen Eklat zu provozieren. Sie drehte den Kopf leicht, sodass sie in Ginnys fahles, aber entspanntes Gesicht sehen konnte. Nahm sich Zeit, in dem morgendlichen Halbdunkel, das in ihrem Zimmer herrschte, aus dem Schattenspiel vertraute Züge herauszulesen. Die feinen Augenbrauen, die wie ein schwungvoller Tuschestrich wirkten, mandelförmige Augen mit dichten, endlosen Wimpern, die lange, schmale Nase, die zu den weichen Lippen wies. Ein ovales Gesicht mit einem energischen Kinn, einem sanften Flaum auf der warmen Haut, eingerahmt von Fluten schwarzer glatter Haare. »Sie ist schön.« Stellte Rike beinahe andächtig fest, ohne den üblichen Stich zu verspüren, der sie daran erinnerte, dass sie sich besser von ästhetischem Wettstreit fernhielt. Hatte ja auch keinen Sinn, Äpfel mit Birnen zu vergleichen, richtig?! Ginny gehörte ganz klar zur Kaste der Prinzessin, während sie sich selbst als Arbeiterin einstufte. Und es verhielt sich ja nicht so, dass man an der eigenen Person solche Grundsätzlichkeiten beeinflussen konnte. Ein Anzug konnte aus einem Gorilla ebenso wenig einen Dressman machen, wie sie sich in eine Prinzessin verwandeln würde. ~#~ Ginny blies unwillkürlich gegen das lästige Kitzeln an, das ihre Nase reizte, aber ihr Unterbewusstsein meldete verärgert, dass sie nur in wachem Zustand die Ursache beseitigen konnte. Also schlug Ginny die Augen auf, wischte grummelnd Strähnen aus der Stirn. Kuschelte sich wieder behaglich an ihre bequeme Schlafunterlage. Vage registrierte sie ein wellenförmiges Beben, langsam, aber stetig, das Ausdruck eines lebenden Wesens war. Erst, als ihre Handfläche müßig über die Oberfläche streifte, schreckte sie hoch. Was sie da so liebevoll mit ihrem Handteller verbarg, war eine weibliche Brust!! Peinlich berührt stemmte sich Ginny hoch, zog behutsam die Hand zurück, um Rike nicht zu wecken, die noch immer gleichmäßig atmend ruhte. »Liebe Güte, habe ich etwa die ganze Nacht so an ihr geklebt?!« Sich mit beiden Händen durch die Haare fahrend schürzte Ginny die Lippen missbilligend, betrachtete die stille Gestalt, die auf dem Rücken dahingestreckt lag. »Ich rieche eklig!« Verabscheute sie sich selbst, bemühte sich dann, über Rike hinwegzuklettern, um sich zu waschen. »Dieser verfluchte Apfelsaft!! Mein Mund schmeckt wie ein Säurefass, und ich könnte schwören, dass bereits ein Pelz auf meiner Zunge gewachsen ist!!« Verstohlen huschte sie über den Flur, ein wenig bange, sie mochte ihrem Arbeitgeber im Nachthemd begegnen. Das Badezimmer erwies sich als frei, sodass sie sich rasch einschloss. Dankbar für die eigene Voraussicht öffnete sie ihre kleine Reisetasche, entnahm eine Flasche mit milder Reinigungslotion, duschte rasch und tupfte sich dann mit leicht duftendem Körperpuder ab. »Hach!« Seufzte sie lächelnd, das war doch gleich besser!!! »Frisch und wohlriechend!« Jetzt musste sie lediglich ihre Haare wieder bändigen. Zu ihrer Verwirrung waren einige Strähnen ungleich kürzer als andere, was ein Stirnrunzeln in ihr Gesicht zeichnete. Bis sie sich an weniger schöne Augenblicke der letzten Nacht erinnerte, heftig an den eigenen Hinterkopf klopfend. »Ginny, Du Dussel!« Nun, zu dem üblichen Zopf reichte es allemal, da würden die paar Ausreißer nicht auffallen. ~#~ Als sie das Zimmer wieder betrat, riss Rike gerade mit geübtem Schwung die Fensterflügel auf. Sie hatte Ginnys Abwesenheit genutzt, sich rasch anzuziehen, schenkte ihr nun ein scheues Lächeln. "Guten Morgen." Ginny erwiderte den Gruß strahlend, strich sich über das einfache, einteilige Kleid. "Entschuldige nochmals, dass ich heute Nacht so lästig war... normalerweise ist mein Magen nicht so empfindlich..." Über Rikes Gesicht tanzte ein amüsiertes Grinsen. "Du solltest bei Apfelwein vorsichtig sein, wenn du keinen Alkohol verträgst." Tadelte sie milde, bereits der Tür zustrebend. Ginny runzelte verwirrt die Stirn. "Wieso Alkohol? Apfelwein? Aber ich dachte..." Ratlos folgte sie Rike und glaubte tatsächlich, ein helles Kichern zu hören, aber das musste Einbildung sein?! ~#~ Die Sommerferien bedeuteten für die Spedition harte Arbeit, denn viele Kunden nutzten diese freie Zeit zu Umzügen. Natürlich war auch die eigene Mannschaft ausgedünnt, da einige Mitarbeiter schulpflichtige Kinder hatten. Was jeden Auftrag zu einem Drahtseilakt gestaltete, insbesondere, wenn man auf Hilfskräfte zugreifen musste. Rikes Vater kannte einige zuverlässige Männer aus Polen, die ihrerseits die arbeitsfreie Zeit nutzten, um in der Fremde ein Zubrot zu verdienen. Erstaunlicherweise erwies sich Ginny als begabte Vermittlerin mit rascher Auffassungsgabe, auch wenn man sich mit Händen und Füßen verständigen musste. Und so blieb Rike ausreichend Zeit, das Material und die Maschinen zu überwachen. Sie stampfte gerade schwitzend auf die Steuerung einer hydraulischen Ladebühne, die sich widerspenstig ihrer Aufgabe entzog. "Verdammtes Mistding!!" Mit Verspätung registrierte Rike, dass Ginny im Schatten des LKW lehnte, wie immer in ein duftig-leichtes, geblümtes Sommerkleid gewandet. Sie lächelte strahlend, während ihre schlanken Finger einen Fotoapparat umfingen, bereit zum Schuss. "Hey, keine Bilder, ja?!" Zwischen Verärgerung und Verlegenheit schwankend riss Rike die staubigen Unterarme vor das Gesicht, wich in den offenen Laderaum zurück. Ginny lachte perlend, trat nahe an die Hebebühne heran, als Friedensgeste den Apparat vorsichtig ablegend. "Ich mache nur Bilder, wenn du es erlaubst!" Versicherte sie sanftmütig, zwinkerte dann hoch, als gelte es, ein scheues Tier herauszulocken. "Hast du den Fehler schon gefunden?" Rike brummte unwillig, ließ sich dann auf die freischwebende Laderampe hinuntergleiten und baumelte schmollend mit den Beinen. "Keine Ahnung, was mit diesem Schrott los ist!! Hydraulikflüssigkeit ist da, Strom auch. Vielleicht ein Kurzer irgendwo." Frustriert seufzend stützte sie die Ellenbogen auf die Oberschenkel. Ginny überwand die Distanz zwischen ihnen, lehnte sich vertraulich mit den nackten Unterarmen auf Rikes Knie. "Warum machst du keine Pause und trinkst einen Eistee? Selbst der Motor knackt schon unter der Hitze." Tatsächlich verbrannte die Mittagssonne gnadenlos den freistehenden LKW, aber Rike hatte in der Garage nicht genug Platz, um mit der Ladebühne zu experimentieren. "Du wirst ganz schmutzig." Wisperte Rike, Ginnys Blick ausweichend, wies nur mit dem Kinn auf ihre staubigen Hosenbeine, die Tuchfühlung mit Ginnys Kleid hatten. "Das klopfe ich ab!" Erklärte diese munter, streckte dann müßig einen Arm nach ihrer Kamera aus. "Darf ich ein Bild von dir machen?" Rike zog die Augenbrauen zusammen, wischte sich Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn, vergaß völlig, dass sie die schweren Arbeitshandschuhe nicht gereinigt hatte. "Jetzt?! So?!" Bezeichnend breitete sie die Arme aus, drückte den Rücken durch, um Ginny das ganze Ausmaß der Zumutung zu demonstrieren. Ihr T-Shirt im Firmenblau war sichtbar durchgeschwitzt, die Latzhose staubig, mit Hydrauliköl bekleckert, Arme und Gesicht trugen ebenfalls graue und schwarze Spuren. "Genau so!" Bekräftigte Ginny ernsthaft, löste sich von Rike und trat einen Schritt zurück. "Ich kann so was nicht, so posieren..." Winkte Rike ab, bereit, von der Ladebühne zu springen. "Warte bitte!" Rike stoppte ihren Abwärtsdrang, warf Ginny einen überraschten Blick zu, hatte diese doch ungewohnt streng geklungen. Ginny stellte sich auf die Zehenspitzen, was bei den schwindelerregenden Keilabsätzen ihrer Espandrillas einen wahren Balanceakt implizierte. Legte hauchzart die Fingerspitzen ihrer rechten Hand auf Rikes linke Wange. Für Augenblicke stand um sie herum alles still, als habe die flirrende Hitze jede Regung, jedes Leben ausgedörrt. Rike vergaß zu atmen, die grünen Augen noch immer perplex aufgerissen, soweit es das grelle Mittagslicht zuließ, als Ginny sich zurückzog, die Kamera in Ansatz brachte und ohne Zögern den Auslöser betätigte. Der Bann brach mit einem heftigen Knacken der Motorhaube, beide Frauen blinzelten heftig, befeuchteten die Augen wieder, die von einem staubigen Film überzogen schienen. Dann sprang Rike kraftvoll von der Bühne und stapfte zum Haus. Mit einem zufriedenem Lächeln folgte Ginny ihr, die Kamera lässig an einem ledernen Band um das fragile Handgelenk baumelnd. ~#~ "Rike?" Ginny studierte die Zeitung mit sittsam übereinander geschlagenen Beinen, während Rike, sich die kurzen Haare energisch mit einem Handtuch trockenreibend die Wendeltreppe hinunterstieg. "Hast du am Wochenende schon was vor?" Rike zog die Augenbrauen zusammen, die Augen schärften sich zu abwehrendem Flaschengrün. Eine solche Frage hatte Ginny ihr noch nie gestellt. Wochenende war Privatsphäre, ebenso das Erörtern persönlicher Lebensumstände, daran hielt Rike eisern fest. Als habe Ginny weder ihre Abwehrhaltung, noch das Fehlen jeglicher Äußerung bemerkt, fuhr sie in begeistertem Plauderton fort. "Ich sehe hier gerade, dass am Freitagabend in der Burg ein Festival stattfindet! Warst du schon einmal dabei?" Rike schleuderte ihr Handtuch aus, Ginny den Rücken kehrend. "Nein." Brummte sie knapp. "Für zwanzig Mark ist man dabei, es gibt Bands aus der Umgebung, die auf einer Bühne in der Ruine spielen. Und natürlich etwas zu essen und zu trinken. Und Überraschungen wie Feuerschlucker und Gaukler!" Mit verträumten Grinsen fuhr sie dann fort. "Samstags ist dann bunter Mittelaltermarkt, eine Zuchttierschau und Spiele für die Kinder." Rike begann, Kaffeepulver in die große Maschine zu füllen. Hitze hin oder her, die nachmittäglichen Rückkehrer bestanden auf ihrer Dosis Koffein. "Hast du nicht Lust, bei Mondschein auf der Ruine zu spazieren und Musik anzuhören? Hm?!" Ginny strahlte Rike auffordernd an, die dunkelbraunen Augen verklärt von erwartungsvoller Freude. "Du solltest mit deiner Familie oder deinen Freunden hinfahren." Schlug Rike betont kühl vor, beschäftigte sich mit dem Sortieren von Geschirr. Wenn sie glaubte, dass Ginny ihre abwehrende Haltung beeindruckte, so irrte sie, denn diese lächelte nach wie vor freundlich, malte hartnäckig die Vorzüge dieses Spektakels aus. "Stell dir mal vor, ins Verlies zu klettern und zum Time Warp aus der Rocky Horror Picture Show zu tanzen!" "Hmm." Brummte Rike einsilbig, faltete in Ermangelung anderer Ablenkungsmöglichkeiten ihr Handtuch akkurat. "Wir könnten mit dem Roller hinfahren, zur Burg hoch laufen und uns die ganze Zeit amüsieren!" "Ich weiß nicht..." Ginny ließ die Zeitung mit einem elegantem Schubs über den blankpolierten Tisch gleiten, stellte die Beine auf den hohen Absätzen nebeneinander. Schraubte sich langsam in die Höhe, strich ihr Kleid glatt, um dann mit wiegenden Hüften auf Rike zuzuschlendern. "Ach komm, Rike!" Gurrte sie provozierend. "Ein Mal ist kein Mal! Und ich möchte mit dir hingehen!" Direkt vor Rike blieb sie stehen, die sich wie ein Cowboy mit ausgestellten Ellenbogen an die brusthohe Anrichte lehnte. Der frische Duft von Pfefferminze, der Ginny wie eine Wolke zu umschmeicheln schien, prickelte auf Rikes Haut, durchdrang ihren inneren Schutzschild ungehindert. Ginny enthielt sich jeder Äußerung, sah Rike einfach in die Augen, ein schweigendes Duell, das Rike schließlich abbrach. "Mein Vater liebt diesen Roller. Er wird ihn nicht rausrücken." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hob das Kinn an. Ginny glitt neben sie, wie ein artiges Schulmädchen die Füße nebeneinander gestellt, die Hände vor dem Schoß flach übereinander gelegt. "Und außerdem habe ich keine Ahnung, was man da trägt! Kostüm oder Kleid oder Ritterrüstung oder was?!" Ginny schubste sie mit der Schulter federleicht an, den Blick noch immer ruhig geradeaus gerichtet. "Wenn ich deinen Vater um Erlaubnis bitte, wirst du dann mit mir auf das Festival gehen?" Rike, in der Gewissheit, dass ihr Vater unter keinen Umständen den geliebten Roller freigeben würde, nickte großmütig. Ginny lächelte versonnen vor sich hin. ~#~ "Ich begreife es einfach nicht!" Rike baute sich mit auf den Hüften gestützten Händen vor ihrem Vater auf, der an ihr vorbei zu schielen suchte, um dem Fernsehprogramm folgen zu können. "Du hast gesagt, der Roller ist tabu!! Wieso lässt du uns jetzt so einfach damit herumkutschieren?!" Rikes Vater wechselte von Backbord nach Steuerbord, in der Hoffnung, dort etwas mehr zu erhaschen. "Rikelein, ich vertraue darauf, dass du vorsichtig fährst. Und außerdem wird er vom Rumstehen auch nicht besser." "Aber Mama hat..!!" "Deine Mutter hätte sicher keine Einwände, Kind. Geh mit Ginny auf das Fest und amüsier dich." Dieses Mal war sein Blick vollkommen auf seine verärgerte Tochter konzentriert. Rike schob kaum merklich die Unterlippe vor, wandte sich dann abrupt ab und stapfte aus dem Zimmer. Ihr Vater schüttelte halb ratlos, halb belustigt den Kopf. Warum musste man sie immer zu ihrem Glück zwingen? ~#~ "Ich trage keinen Rock!" Erklärte Rike kategorisch. "Außerdem muss ich den Roller fahren." Mit abwehrender Körperhaltung thronte sie auf ihrem Bett, während Ginny mit nachdenklicher Miene vor Rikes Kleiderschrank paradierte. Das Angebot war mehr als dürftig. Ginny fragte sich still, ob Rike eigentlich jemals ausging oder sich einmal festlich kleidete. Es musste etwas Neues her, aber wie diese Botschaft diplomatisch verpacken? "Weißt du, ich würde gern im Partnerlook gehen." Gab sich Ginny nachdenklich. "Würdest du mich zum Shoppen begleiten?" Rikes Gesichtsausdruck gebrach es unverhohlen an Begeisterung, dennoch nickte sie widerwillig. "Muss mir ja schließlich ein Bild von deinen Klamotten machen." Brummte sie antriebslos, stemmte sich dann in die Höhe. "Jetzt gleich?" Ginny strahlte sanft. ~#~ Rike starrte ein wenig verloren in die sehr individuell gestaltete Schaufensterscheibe des Second-Hand-Shops. [Cinderella] leuchtete es in giftgrünen Lettern über einem von Bambus bepflanzten Terrakotta-Kübeln flankierten Vordach in schrillem Orange. "Liebe Güte, sieht ja aus, als hätte der Dekorateur in der Geisterbahn gejobbt!" Kommentierte sie dumpf die Lasterhöhle, in die Ginny sie kurzerhand zerrte. Im Inneren, einer wüsten Orgie aus Plüsch und Kunstpelz beklebten Säulen, drängten sich Ständer an Ständer, oftmals in zwei Etagen übereinander. Das Wesen, das hinter einer efeuumrankten Theke überlange Fingernägel feilte, flötete ihnen ein "Herzlich Willkommen!" entgegen, ohne die schweren Lider von der Filigranarbeit zu heben. Rike ließ sich ziehen, schauerte unter der musikalischen Berieselung, die an die Brunftlaute von Tiefseegetier erinnerte. Ginny, immun für die sich gegenseitig ausstechenden Reize, hatte bereits mit untrüglichem Gespür entdeckt, was ihr zusagte. An einem Ständer drängte sich ibero-inspirierte Mode, von Flamenco bis zum mexikanischen Poncho. Ihr Herz schlug Kapriolen, als ihre Finger den seidig-glatten Stoff eines schlicht gehaltenen Kleides liebkosten. Vorsichtig löste sie den Kleiderhaken heraus, schüttelte das feine Kostüm aus. Das einteilige Kleid in einem betäubendem Burgunderton hatte eine schlichte, gerade Silhouette, die ihren raffinierten Schnitt erst enthüllte, wenn es sich an einen Körper schmiegte. Von den Knien bis zum Hüftansatz waren geraffte, schwarze Spitzen eingesetzt, die Bewegungsfreiheit ermöglichten, hervorblitzten, wenn die Trägerin ging. Der Rücken war mit der gleichen Spitze bis tief zum Taillenansatz bedeckt, während die Rafftechnik mittels burgunderfarbener Einsätze üppige Brüste vortäuschte. "Es ist wunderschön." Flüsterte Ginny andächtig, ein begehrliches Funkeln in den Augen. Rike, die sich unwohl fühlte in dieser unbekannten Welt, entzog ihr behutsam die Umhängetasche. Wies mit dem Kinn auf eine Umkleidekabine in Form eines Zeltes, dessen royalblaue Stoffplane man mit Sternen beklebt hatte. "Versuch macht kluch, na los!" Ginny grinste Rike verschwörerisch an, verschwand in dem Zelt, schlüpfte eilig aus ihrem eigenen Kleid, das nun seltsam jungfräulich und verspielt in seinem hellen Blumendruck wirkte. »Schwarze Slingpumps!« Schoss es ihr durch den Kopf. »Das wären die richtigen Schuhe, eine hauchdünne, schwarze Strumpfhose...« Vorsichtig stieg sie in das Kleid, kämpfte mit dem unvermeidlichen Reißverschluss an der Rückseite. "Rike, könntest du mir mal helfen?" Rike, die mit hochgezogenen Augen einige Kleidungsstücke betrachtet hatte, die Ähnlichkeiten mit einem Golfrasen hatten, übersät mit Löchern und Fähnchen, schlüpfte zu Ginny in das Zelt. Und blieb in der indirekten Beleuchtung wie angewurzelt stehen, was Ginny, die ihr den Rücken zukehrte, entging. Über Rikes Haut flüchtete ein elektrischer Impuls, der seine blitzenden Fasern über ihren gesamten Körper ausstreute, ihre Kinnlade klappte herab. Verspätet erinnerte sich ihr Gehirn daran, dass vor geraumer Zeit ein Hilfeersuchen eingegangen war. Mit der Steifheit eines Roboters assistierte sie Ginny bei der Aktion Reißverschluss. "Sitzt genau richtig!" Ginny strich sich über die fast knabenhaft schmalen Hüften, stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Eindruck zu testen. "Spiegel ist draußen." Wisperte Rike mit belegter Stimme, noch immer blinzelnd. "Das muss ich sehen!" Quietschte Ginny aufgedreht, huschte aus dem Zelt hinaus zu einem bodenlangen Spiegel, dessen Rahmen in aufwändiger Kleinarbeit mit Gänseblümchen tapeziert worden war. "Wow!" Komplimentierte sie sich selbst, drehte sich rasch, löste aus einer Laune heraus ihre Hochsteckfrisur und ließ die hüftlangen Flechten frei schwingen. Sie bemerkte Rike kaum, die wie ein Schatten an einem Kleiderständer lehnte und sie beobachtete. Für einen Augenblick wirbelten vor Ginnys Augen fremde Bilder auf, eine strahlende Prinzessin, die sich sonnengleich vor einem Spiegel an der eigenen Reflexion berauschte. Während verloren im Dunkel der Schatten ein sehnsüchtiges Augenpaar bewundernd und traurig zugleich dem Schauspiel folgte. Ginny blinzelte. Sie betrachtete sich nicht als Prinzessin, auch wenn ihr sehr gefiel, was dieses Kleid hervorzauberte. Und dem Augenpaar in seiner Isolation würde gleich als Nächstes geholfen werden! "Kannst du den Preis erkennen?" Ginny drehte sich wild, in der Absicht, den unvermeidlichen Realitätsschock, den sie entschlossen hinausgezögert hatte, nun tapfer auf sich zu nehmen. Allein, das Etikett flatterte fatalerweise ungünstig am hinteren Saum des Kleides. Rike erhaschte den Karton und hauchte Ginny den Preis in ein Ohr. Diese riss die Augen auf, weniger vor Entsetzen als vor Unglauben. "Bist du sicher?!" Rike runzelte die Stirn, überprüfte das Etikett erneut, ein wenig irritiert über das euphorische Glitzern in Ginnys Augen. Zugegeben, das Kleid war wundervoll, saß wie angegossen, entzündete ein Feuer in Ginny, das sie noch nie zuvor bemerkt hatte, aber dennoch... 100 DM für ein Kleid?! Ginny kicherte hinter vorgehaltenen Händen, entwischte eilig in das Zelt, in das ihr Rike kopfschüttelnd folgte. "Oh, danke, der Reißverschluss... hatte ich glatt vergessen!" Rike drehte ab und verließ das Zelt, um draußen auf Ginny zu warten, wie immer in altmodischer Höflichkeit. "Und nun... schau doch mal, das ist toll!" Ginny, das erwählte Kleid fest im Arm, dirigierte Rike zum hinteren Ende des sich durchbiegenden Ständers. Unbekümmert zerrte sie mit der freien Hand eine schwarze, mattschimmernde Hose heraus, reichte sie Rike. Noch bevor Rike einen herablassenden Protest formulieren konnte, stieß ihr Ginny den Ellenbogen in die Seite und wies auf die Kleidungsstücke, die an einer weiteren Stange über ihren Köpfen baumelten. "Da, glaubst du, du könntest die Bluse mit dem Haken herunter angeln?" Rike verdrehte die Augen, nahm sich aber gehorsam einen eisernen Haken, der einen langen Stock zum Schaft hatte. Schob diesen gewandt in den Ring, der den Kleiderbügel hielt, hob den Ring kontrolliert über den Dorn, der aus der Kleiderstange herausragte. "Und nun?" Ginny pflückte mit Kennerblick die Bluse von ihrem Kleiderbügel, bestrich mit den Fingerspitzen den flaschengrünen Stoff. "Probier die Sachen an!" Rike knurrte einen halbherzigen Protest, schnappte sich aber mit Verachtung beide Kleidungsstücke, um im Inneren des Zeltes zu verschwinden. "Da passe ich nie rein! Ich werde aussehen wie eine Wurst!" Ginny kicherte und lehnte sich bequem in das violette Kunstfell der nächsten Säule. Rike, in gewohntem Tempo aus Arbeitshose und kariertem, ärmellosem Hemd gestiegen, betrachtete ein wenig hilflos die Hosen. Figurbetont mit hohem Bund wurden sie an einer Seite per Reißverschluss befestigt, vollkommen schmucklos in ihrer Ausführung. Die Bluse selbst bestand aus zwei Stoffdreiecken an der Front, die einander kreuzten, im Nacken und am Rücken geknöpft. Sie reichte gerade bis zu den Hüften, was sie perfekt auf die Hose mit ihrem hohen Bund abstimmte. Unbefangen glitt Ginny zwischen die Stoffbahnen des Zeltes, zu ungeduldig, um zu warten, bis sich Rike in die ungewohnt körperbetonten Kleidungsstücke gewickelt hatte. "Du musst den BH ausziehen!" Wies sie an, bereits an der freiliegenden Rückenpartie den Verschluss lösend, öffnete dann den Knopf am Nacken. Mit gleicher Geschäftigkeit streifte sie Rike den BH herunter, die schamhaft die Bluse am Herunterrutschen hinderte, indem sie hastig die Arme vor der Brust kreuzte. Ginny, die von dieser Reaktion keine Notiz zu nehmen schien, justierte sämtliche Verschlüsse erneut und drehte Rike dann an den Schultern zu sich herum. Ihre schlanken Finger glitten auffordernd über Rikes nackte Schultern die muskulösen Arme herunter, um dann die Handgelenke zu umfassen und hinunterzuziehen. In Rikes Gesicht hatte sich eine dunkle Färbung geschlichen, beharrlich verweigerte sie den Blickkontakt. "Phantastisch! Steht dir ausgezeichnet!" Bestürmte Ginny sie, ließ die Fingerspitzen über den Leinenstoff der Bluse gleiten, zerwühlte die kurzen, dunkelblonden Haare mit kritischem Blick auf den schmucklosen Oberkörper. "Und dann noch ein paar lange Ohrclips und du wirst wie ein Pin-Up aus den Fünfzigern aussehen!!" Rike seufzte geschlagen und verlegen zugleich. "Das Zeug hat nicht mal Taschen!! Und es sitzt so....eng!!" Ginnys Lachen perlte wie Champagner, als sie sich an Rikes Schulter anlehnte. "Komm mit raus und sieh dich an! Es sitzt wie dir auf den Leib geschneidert!" Ohne eine Gegenrede abzuwarten schob sie Rike aus dem Zelt, bemerkte kichernd, dass Rike zumindest ohne Stilbruch schwarze Turnschuhe dazu tragen könne. Rike brachte keinen Kommentar mehr an, da sie vor ihrem Spiegelbild erschrak. Fassungslos musterte sie die Fremde, die entfernte Ähnlichkeit mit ihr hatte, aber eine ganz andere Person zu sein schien. Verstohlen zeichneten ihre kräftigen Hände die eigene Silhouette nach, verblüfft über die eigene Figur. "Ich sehe... so ...." Ihre Hände beschrieben beredet wellenförmige Kurven in die Luft. "...aus!!" Ginny lachte laut und schlang einen Arm scherzend um Rikes Taille. Sie wandte den Kopf und wisperte Rike vertraulich zu. "Du hast einen sehr weiblichen Körper. Ich wünschte, ich wäre nicht so dürr und platt." Rike errötete heftig, brummte Unverständliches, das möglicherweise Bewunderung für Ginnys schlanke, gazellenartige Figur und Missbilligung für die eigene, als junoesk empfundene Statur enthielt. Sanft schob Ginny Rike wieder in das Zelt hinein, um dann mit fliegenden Fingern die Knöpfe zu öffnen, ungeachtet der Gänsehaut, die Rikes breiten muskulösen Rücken überzog. Als sie in Übermut auch bei dem Hosentausch behilflich sein wollte, scheuchte Rike sie mit einem Knurren hinaus. Wenige Augenblicke später, mit strubbeligem Haar und noch immer einer Spur Röte auf den Wangen erschien Rike wieder, mit bekümmertem Blick die Kartonschilder schwenkend. "Ganz schön teuer, das Zeug. Da könnte ich glatt drei Teile kaufen bei Strauß." Ginny legte beschwörend den Finger auf Rikes Lippen, zwinkerte leicht. "Ein besonderer Anlass erfordert besondere Garderobe!" Dozierte sie nachsichtig lächelnd, hakte sich dann bei Rike unter, um dem Wesen an der Kasse Gelegenheit zu geben, Kontakt mit der Erde aufzunehmen. ~#~ Rike wischte sich über die Stirn und startete den kleinen Mannschaftsbus. "Ich hasse Shoppen!! Das ist ja schlimmer als ein Umzug mit Yuppies!" Ginny kicherte sprudelnd, leckte genussvoll an ihrer Eistüte, die aparte Kombination von Vanille und Pfefferminze verzehrend. "Möchtest du wirklich nicht mal probieren? Schmeckt wundervoll!" Lockte sie Rike, nutzte eine Lebenszeit stehlende rote Ampelphase. Rike, die eisern an ihren Prinzipien festhielt, nämlich, dass Shoppen Arbeit war und daher von Vergnügen getrennt werden musste, warf einen gequälten Blick zu Ginny. Die trotz der klebrigen Hitze frisch und duftig wirkte. "Du musst dir nicht mal die Finger schmutzig machen!" Offerierte sie ihre Eistüte einladend vor Rikes Mund. Zögerlich, verlegen, ließ Rike die Zunge rasch und verstohlen über die bunten Kugeln gleiten, kostete prüfend. "Na?" Ginny beugte sich noch weiter vor, um sich Rikes Reaktion keinesfalls entgehen zu lassen. "Gut, nicht?" Rike nickte knapp, vermied jeden Blickkontakt, konzentrierte sich angespannt auf die offenkundig defekte Ampel. "Mistding, haben sie nur eine Farbe gehabt, oder was?!" Grollte sie entgegen ihrer üblichen, stoischen Gelassenheit laut. Ginny, wieder behaglich in ihren Sitz gekuschelt, summte leise vor sich hin, die Lippen zu einem Lächeln gekräuselt, das nicht nur vom süßen Geschmack des Milcheises herrührte. ~#~ Rikes Vater thronte in dem abgewetzten Fernsehsessel, wippte begeistert bei einer Spielshow mit, die gerade eine musikalische Unterbrechung bot. Rike, die wie immer Gesellschaft durch bloße Anwesenheit bot, studierte Dokumente mit kritischem Blick. "Rikelein, mach doch endlich Schluss, morgen ist doch auch noch ein Tag!" Rike brummte etwas, räumte dann aber tatsächlich den Papierkram zu einem ordentlichen Stapel zusammen. "Kannst du es glauben, ich habe über 100 DM für Kleidung und Schnickschnack ausgegeben!" Rikes Vater nickte beiläufig, unbeteiligt. "Und diese ... Person... als Ginny ihr Kleid gekauft hat, erklärte er.. oder sie..., nun, wie auch immer, dass es ein Vermächtnis von Donna Melina gewesen sei!" "Hmmm.", Brummte ihr Vater, den eigenen Schenkel rhythmisch bearbeitend. "Ein Transvestit, der sich zur Ruhe gesetzt habe!" Keine sichtbare Reaktion. Rike seufzte, erhob sich und tätschelte ihrem Vater die Schulter. "Schlaf gut, Vater." "Nacht, Rikelein." Als sie wie üblich noch einen Kontrollgang über das Betriebsgelände machte, schweiften ihre Gedanken zu den Ereignissen des heutigen Tages ab. Erstaunlich, dass Ginny bei der Geschichte des unerwartet schwatzhaften Verkäufers so aufgeweckt und freundlich geantwortet hatte. Sie hatte keine Bedenken, das Kleid zu tragen, auch wenn es vorher einem verkleideten Mann als Dekor für eine wie auch immer geartete Show gedient hatte. Allerdings, das musste Rike sich eingestehen, wäre es eine Verschwendung gewesen, das Kleid auf dem Ständer versauern zu lassen,. Nur weil sich niemand fand, der ausreichend schmal gebaut war, um es zu tragen. Und Ginny hatte unbekümmert über ihren schlanken Körper gespottet, der augenscheinlich aus den speziellen Bedürfnissen eines Transvestitenkleides Vorteile zog. Im Gedenken an die Details errötete Rike im Schutze der Dunkelheit erneut. »Ich wünschte, ich wäre so frei wie sie.« ~#~ Rike studierte das Klingelbrett kurz, drückte dann auf den entsprechenden Knopf. Ein Summen ertönte, die einfache Haustür schwang auf ihren leichten Druck heftig in den Hausflur. Holztreppen führten drei Stockwerke in die Höhe, kommentierten jeden Schritt geräuschvoll. Rike setzte entschlossen ein verbindliches Lächeln auf, während sie das Treppenhaus erklomm, aber sie musste mehrfach die Handflächen an der Hose abstreifen, weil nervöse Feuchtigkeit sich dort sammelte. An der Tür erwartete sie Ginny bereits lächelnd, nahm gleich Rikes Handgelenk und zog die Widerstrebende fröhlich in die Wohnung. "Komm, Rike, ich muss meine Sachen noch holen!" Ginny führte Rike an einer Wohnküche vorbei, wo sich auf den unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten verschiedene Frauen versammelt hatten, neugierig auf die fremde Frau schielend. Ginny warf auf Türkisch ein paar Worte im Vorbeigehen ein, was ein anerkennendes Murmeln auslöste. Aus dem Wohnzimmer drang ohrenbetäubend die künstliche Geräuschkulisse eines Videospiels. "Erkan, mach leiser!" "Stirb, Ginny-mon!", kam die prompte Antwort. Rikes Augenbrauen wanderten verwirrt in die Höhe, als sie bereits die Sicherheit von einem kleinen Zimmer erreichten. Exakt in der Raummitte abgeteilt durch eine Vorhangschiene stellten ein schmales Bett, ein Kleiderschrank und ein unter seiner Last schwankendes Regal Ginnys winziges Reich dar. Die freien Flächen waren mit Photos und Collagen bedeckt. "Erkan, das kleine Stinktier, ist mein verwöhnter Bruder, mit dem ich mir das Zimmer teilen muss. Das andere waren Verwandte und Freundinnen meiner Mutter. Die kreuzen immer auf, wenn mein Vater nicht da ist, damit sie stundenlang tratschen können." Ginny zwinkerte und lachte dann perlend, als sie Rikes schiefes Grinsen bemerkte. "Schockiert?" Neckte sie sanft, gleichzeitig Kleid und Utensilien in eine große Einkaufstasche verpackend. Rike, die betont müßig die Bilder studierte, zuckte unbehaglich mit den Achseln. Sie hatte durch ihren Beruf schon viele verschiedene Wohnungen gesehen, allerdings war dies hier etwas anderes. Es war privat. "Was hast du ihnen denn gesagt? Ich meine, als wir an der Küche vorbeikamen?" Ginny warf einen kontrollierenden Blick um sich, legte dann den Kopf schief. "Oh, nichts Besonderes. Dass du mein Boss bist." Auf Rikes Gesicht rutschten sämtliche Züge vor Verblüffung herunter. "Bitte?" Krächzte sie, zog automatisch die Tasche aus Ginnys Hand und warf sie über die Schulter. Ginny kicherte. "Na, stimmt doch, oder?" Rikes Augenbrauen zogen sich zusammen, dann wandte sie sich wortlos ab, der Tür zustrebend. Ginny folgte ihr, musterte den angespannten Rücken. Rasch verabschiedete sie sich, während Rike stumm nickte, das Gesicht verschlossen und distanziert. Erst auf der Straße konnte sie Rike wieder einholen und sich an ihren Arm hängen. "Ich konnte ihnen nicht sagen, dass du eine Freundin bist. Sie hätten es nicht verstanden." Rike schwieg, stellte die Tasche auf einen Sitz des Kleinbusses. "Warum nicht?" Ginny, die bereits auf den Beifahrersitz geklettert war, strich sich eine verlorene Strähne aus der Stirn. "Sie missbilligen meine Arbeit, und sie kennen nur Landsleute." Rike warf einen kurzen Seitenblick auf Ginny, die die Strähne gedankenverloren um einen schlanken Finger wickelte. "Sie sind verloren, weil sie keine Heimat mehr haben. Sie verstehen nicht, dass ich meine Heimat hier habe. Meine Zukunft, meine Träume." ~#~ "Und?" Rike betrachtete den Schmuckkamm, der verwegen aus Ginnys Hochsteckfrisur herausstak, nickte dann nachdrücklich. "Perfekt." Ginny lächelte, schminkte sich dann geübt und umsichtig, ein wenig dunklere Nuancen für den späten Abend, passend zu dem Burgunderton ihres Kleides. Mit stillem Amüsement verfolgte sie im Spiegel des Meyfarthschen Badezimmers, wie Rike staunend ihre Verwandlung beobachtete, von einer Faszination ergriffen, die Ginny anrührte. "Okay, und nun du!" Kommandierte sie, wandte sich zu Rike um. Diese wich überrumpelt zurück. "Ich?! Nein, nein, das ist nichts für mich!" "Keine Widerrede!" Entgegnete Ginny streng, bereits beide Hände flach um Rikes Gesicht legend. "Ich habe extra für dich passende Farben herausgesucht!" Rike blinzelte nervös, wagte aber nicht, dem beharrlichen Griff zu entschlüpfen. "Hey, vertrau mir einfach, ja?" Gurrte Ginny mit flatternden Wimpern, die ungewöhnlichen Fleckenmuster in Rikes grünen Augen bewundernd. »Sie hat keine Vorstellung von ihrer eigenen Schönheit.« Träumte sie gefangen, bevor sie von Rikes ergebenem Knurren jäh aus ihrer Versunkenheit geweckt wurde. Ginny stäubte goldenen Lidschatten, zog mit Eyeliner einen grünen Strich und tauchte die vollen Lippen in ein samtiges, erdiges Rot. »Wundervoll!« Lobte sie sich selbst still. »Wie eine Erntegöttin, voller Kraft und üppig in ihrer naturgegebenen Sinnlichkeit!« Rike, die sich zögerlich dem Spiegel zuwandte, blinzelte ungläubig. "Mein lieber Herr Gesangsverein..." Raunte sie heiser, um sich dann eine Grimasse zu schneiden. Ihre Blicke fanden sich im Spiegel zu einem sanften, verschwörerischen Lächeln. ~#~ Zu Ginnys übersprudelnder Begeisterung wand sich Rike eine kleine Werkzeugtasche um die Hüften, in der sie Geld, Papiere und Schlüssel verwahrte. "Ja, ja, ich weiß. Aber diese Luxushose hat keine Taschen, und ich werde das Zeug nicht in so ein winziges Handtäschchen stopfen!" Knurrte Rike, die langen, aus flaschengrünem Talmi bestehenden Ohrclips schwangen funkelnd an ihren Ohren. Ginny legte beide schlanke Hände vor die Lippen, um das schäumende Kichern einzufangen, das ihre Kehle unbedingt verlassen wollte. Rike nahm auf dem gepflegten Roller Platz, in einem sanften Gelbton lackiert, wahrte mit einem Fuß die Balance. "Eure Hoheit, Ihr Kürbis steht bereit!" Scherzte sie ein wenig linkisch. Ginny warf ihr frech einen Handkuss zu, um sich dann vorsichtig hinter sie auf das steife Polster zu setzen, sorgfältig den Kontakt Radkasten-Kleid abwägend. "Geht es so? Ich werde langsam fahren." Erklärte Rike nervös, den Kopf nach ihrer Sozia umwendend. "Perfekt! Ich bin ganz kribblig vor Aufregung!" Strahlte Ginny, schlang die Arme eng um Rikes Taille. Ohne weitere Verzögerung startete Rike den Roller, fädelte in den Verkehr ein. Immer ihre Umgebung im Blick, da sie nicht die geringste Lust verspürte, von der Polizei angehalten zu werden wegen Verstoßes gegen die Helmpflicht. Um die kleine Maschine nicht zu überlasten, hatte sie eine Strecke entlang der Landstraßen und Feldwege herausgesucht. Exakt nach ihrem heimlichen Zeitplan erreichten sie den Fuß des Berges, auf dem die Burg residierte. Stellten am Rande des Parkplatzes ihren Roller ab und wiesen sich mit den Eintrittskarten als zutrittsberechtigt aus. In der Dämmerung wehte eine sanfte, sommerliche Brise durch den spärlichen Laubwald, zauberte Schattenspiele auf den Kiesweg, der sich in Serpentinen die Anhöhe hinaufwand. Ginny, die ihren schwarzen Slingpumps nicht traute, nahm Rikes Hand und ließ sich fürsorglich hinaufführen. Durch die Bäume sahen sie weitere Menschen der Burg zustreben, dennoch schirmte das Laub und die Büsche Geräusche ab, vermittelte das Gefühl, allein und geborgen in diesem Zauberwald zu spazieren. Die Burg selbst, zu einer malerischen Ruine restauriert, wurde durch Fackeln und vereinzelte Scheinwerfer illuminiert. Musik wehte herüber, vermischte sich mit dem nicht sichtbaren Aroma von Gewürzen und Gegrilltem. Unmerklich hatte Ginny die Führung übernommen, zog aufgeregt Rike hinter sich her durch die Menschenmenge, die sich vor Bühnen und Ständen ballte. "Ich möchte zuerst auf die Zinnen und mir einen Überblick verschaffen, ja?" Rike nickte stumm, ignorierte den appetitlichen Geruch eines Currywurstgrills eisern. Gemeinsam folgten sie mit bunten Fähnchen markierten Absperrbändern. Flankiert von Strängen mit winzigen Partylämpchen hinauf auf einen Wachturm, von eigens gestellter Sicherheitsmannschaft mit Argusaugen überwacht. Rike stützte sich auf die schweren Natursteine und sog tief die schwere, würzige Luft ein. Ginny lehnte sich leicht an sie, ein wenig unsicher auf ihren Absätzen, als eine Hand zuvorkommend ihren Ellenbogen umfasste. "Vorsicht, nicht zu weit hinauslehnen!" Mahnte schmachtend eine männliche Stimme. Sie wandte überrascht den Kopf und sah sich einem jungen Mann gegenüber, der sie herausfordernd anlächelte. "Hi, Boris." Stellte sich ihr Kavalier vor. Ginny lachte leise, nannte ihren Namen, trat dann einen Schritt zurück, um auch Rike bekannt zu machen. Allein, der interessierte Blick ihres Gegenüber blieb unverändert auf ihrem Gesicht hängen, ebenso wie der feste Griff um ihren Ellenbogen. Rike zog die Augenbrauen zusammen, musterte Boris akribisch. Schwarze Locken, gestylt, kräftige Augenbrauen über unverschämt blauen Augen, ein ausgeprägtes Kinn, einen halben Kopf größer als Ginny. Und wie seine feixenden Begleiter in der uniform wirkenden Bekleidung der modischen Männer. Hosen auf Hüfthöhe, darüber körperbetonte T- oder Muscle-Shirts in starken Farben, wenig Schmuck, aber ein gewisses Glitzern in den Augen, das von Jagdfieber kündete. "Danke für die Hilfe, Boris, aber du kannst mich jetzt loslassen." Ginny ließ die langen Wimpern flattern, hakte sich bei Rike unter. "Warum gehen wir nicht zusammen runter und tanzen ein wenig?" Boris schob sich galant vor sie, führte sie durch die Menge, hielt unaufgefordert Ginnys Hand. Diese zwinkerte Rike schelmisch zu, die stoisch geradeaus starrte und innerlich aufseufzte. Als sie die Hauptbühne erreichten, setzte ein verwegen gekleideter Musiker eine wahrhaftige Lure an die Lippen. Der klagende, durchdringende Laut zerriss die zwitschernde Geräuschkulisse, jagte Schauer durch alle Anwesenden. Zwei Feuerschlucker erleuchteten mit gewaltigen Flammen die Bühne, während sich Menschen bereits auf den Holzbohlen der Tanzfläche fanden. Die Combo, eine wilde Mischung aus Mittelalter, Endzeitspektakel und Minnesang, arrangierte sich malerisch, um dann mit erstaunlichem Tempo loszulegen. Ein als Minnesänger gewandeter Mann intonierte mit klar akzentuierter Stimme das Programm zu sanft gezupften Saiten seiner Laute. Mit einem weiteren Feuerstoß verschmolz er mit den wabernden Schatten auf der Bühne, als ein nur mit Holzschuhen und Kilt bekleideter Majordomus seinen Platz einnahm. Die stiernackige Brust mit keltischen Runen verziert, den Dudelsack im Anschlag. Sobald der erste, klagende Laut den nächtlichen Himmel erreichte, fielen bald Drehleier, Rasseln, Trommeln und gedrehter Hörner ein. Zu Rikes blankem Erstaunen intonierten sie "let's come together", das sie nur von den Beatles kannte. Boris nutzte seine Chance, Ginny auf die Tanzfläche zu dirigieren. Dort wimmelte es bald vor Menschen, sodass Rike sich am Rande sehr viel wohler fühlte, hatte sie doch eine gewisse Aversion gegen Menschenmassen. Dafür lockte erneut sirenenartig der sündige Geruch der Currywurst. Rasch schlängelte sie sich durch Zuschauer, atmete bei Erreichen der aufgestellten Bänke, die die Tanzfläche im weiten Rund flankierten, auf. Um dann entschlossen dem Garten Eden der Currywurst-Liebhaber zuzustreben. ~#~ Ginny drehte sich begeistert, ließ selbstvergessen die schwarzen Spitzeneinsätze ihres Kleides aufblitzen, während sie wie viele andere auch den Text laut mitsang. Eine Flamme raste über ihren Köpfen in den Himmel, verschlang die Sterne. Boris, der die post-mittelalterliche Version von "let's stick together" wörtlich nahm, legte beide Hände auf ihre Hüften, um ihren Bewegungsdrang wie einen Trabanten um sich zu begrenzen. Ginny lachte laut, ignorierte das Funkeln in den blauen Augen und schwebte mit der Musik in ihrer eigenen Sphäre davon. ~#~ Rike nutzte eine Lücke, um sich an der hölzernen Theke einen Platz zu sichern. Der Maitre de Cuisine war stilecht lediglich in eine schwere Lederschürze und lange, lederne Handschuhe gekleidet. Für die notwendige Dezenz sorgte eine abgeschnittene Jeans, die mühsam einen gewaltigen Bauch bändigte. Der ganze Mann, kahl und von der Grillhitze gerötet, stand förmlich in seinem Wasser, allerdings sonderte er keineswegs den abstoßenden Schweißgeruch ab, den ein Beobachter vermuten konnte. Er nickte Rike zu. "Einmal mit Curry?" Sie lächelte heißhungrig und hoffte inständig, dass ihre Lippen nicht mit dem Speichel bedeckt waren, der sich in ihrem Mund sammelte. Wie herrlich das roch!! Der Maitre ließ sich angemessen Zeit, die Würste sorgfältig und gleichmäßig zu rösten. Keine schwarze Kruste verunzierte seine Meisterwerke. Zu der Wurst, per Hand in mundgerechte Stücke geschnitten, gesellte sich die Tunke. Rike zahlte und lächelte in Vorfreude. Durch die Bänke konnte sie im Schatten einer abgesperrten Mauer einen verlassenen Sims entdecken, der sich zu einem bequemen Imbiss anbot. Ihre betörend duftende Mahlzeit absetzend warf sie einen kontrollierenden Blick auf die tanzende Menge. Ginny stach hervor in ihrem burgunderfarbenen Kleid, der derwischartigen Versunkenheit in den Tanz, ihrem ekstatischen Lächeln. Rike gönnte sich ein boshaftes Grinsen. »Tja, Boris, die Kleine ist ein heißer Feger, und sie tanzt in erster Linie für sich selbst.« Befriedigt sammelte sie mit einem hölzernen Stick die erste Scheibe auf, triefend von der dicklichen Soße. "Uhhhhh...." Entfuhr ihr ein genießerischer Stoßseufzer, als sich ihre Geschmacksknospen mit dem Leckerbissen vermählten. Das war keine vorgefertigte Brühe aus einem Eimer, das war handgemacht, mit gehackten Zwiebelstücken, Essiggurkenscheiben und Paprikaschnitzeln. Zusätzlich hatte der Maitre Geschick beim Abmessen der Gewürze bewiesen, pikant scharf, eine Spur süßlich vom Curry, kurz: vollkommen! Rike fragte sich einen müßigen Moment, ob es wohl möglich war, dass sich dieselbe Ekstase, die Ginnys Gesicht im Tanz erleuchtete, nun in ihr eigenes beim Verzehr dieser Köstlichkeit verirrte. ~#~ Der Dudelsack wurde von der Drehleier abgelöst, die ein langsames, trauerndes Lied einstreute, von einem Minnesänger mit sanften Worten in einer vokallastigen Sprache begleitet. Instinktiv fanden sich Pärchen zusammen, die, auch wenn sie unmöglich den Wortlaut verstehen konnten, einander festhielten, als könne die gegenseitige Nähe vor Unglück schützen. Boris zog Ginny ebenfalls eng an sich, besitzergreifend die Hände auf ihren Rücken pressend. Ginny verschränkte ihre Hände locker in seinem Nacken, studierte in diesem Clinch sein Gesicht. »Er sieht ganz nett aus, sympathisch.« Befand sie still. Und es war auch gar nicht unangenehm, so gehalten zu werden. "Hast du einen Freund?" Raunte ihr Boris ins Ohr, sachte mit den Lippen ihr Ohrläppchen streifend. Ginny biss sich auf die Lippen, um kein Kichern entschlüpfen zu lassen. Die immergleiche Frage. Sie legte den Kopf schief und schmunzelte. "Nein, im Augenblick nicht." An dem Leuchten in den blauen Augen konnte sie die Antwort ihres Gegenüber schon erahnen, bevor dieser die erste Silbe verlauten ließ. "Ich bin auch solo. Passt ja perfekt, oder?" Das unsicher-affektierte Lachen verschmolz mit dem Aufheulen des Dudelsacks. Und Ginny löste sich wieder, um dem rasanten Grundtakt der Trommel zu folgen. ~#~ Rike widerstand der Versuchung, dem Maitre auf Knien um das Rezept zu bitten. Stattdessen erkundigte sie sich in angemessener Verehrung, ob er nicht ein Restaurant betrieb. Und erhielt mit spöttischem Zwinkern die Adresse einer Imbissbude genannt. Offenbar konzentrierte sich der Maitre auf das Wesentliche. Rike strahlte unbewusst vor sich hin, warf einen Blick auf die wogende Masse, die ausgelassen herumtobte. »Wir hätten einen Treffpunkt ausmachen sollen!« Schalt sie sich dann stumm. Sie hatte kein Interesse daran, sich per Nahkampf zu Ginny durchzuschlagen. Außerdem setzte ihr die Hitze ordentlich zu. Die dicken Burgmauern, durch Grillrost und Fackeln aufgewärmt, von der Sommersonne aufgeladen, strahlten noch immer ab. Eingedenk Ginnys Vorschlag, einmal das Verlies zu besuchen, schloss sie sich einer aufgedrehten Rotte Kinder und Eltern an. Die einem verkleideten Burgfräulein zu einer Führung in die Katakomben der Ruine folgten. Natürlich sprangen aus Schatten finstere Gestalten, aber Rike, die die Begeisterung der Kinder nicht völlig gleichgültig ließ, fokussierte ihre Empfindungen auf die vorherrschende Kühle. Das eigentliche Verlies war zur Enttäuschung der Kinder für diesen Anlass in einen Chill-Out-Room umgewandelt worden. In den Nischen warteten Strohsäcke und dezente Teelichter auf romantische Pärchen. Rike ignorierte souverän mögliche neugierige Blicke, platzierte sich in eine verlassene Ecke. Nur dumpf drang die Musik durch das schwere Gestein. Sie fragte sich, wann Ginny wohl erscheinen würde. Oder würde sie gar mit ihrem Casanova verschwinden? ~#~ Ginny nickte Boris zu, der nicht mehr ganz so apart aussah. Seine Kondition konnte mit Ginnys Lebenslust nicht mithalten, aber Ginny kümmerte das nicht sonderlich. Sie hätte es keinesfalls übelgenommen, wenn er sich zu einer künstlerischen Pause zurückgezogen hätte. Allerdings hätten das einige andere Männer auch nicht, wie sie schmunzelnd feststellte, als sie die Tanzfläche verließ. "Magst du was essen oder trinken?" Boris dirigierte sie durch die Bänke. Ginny strich sich eine gelöste Strähne aus der Stirn und nickte dankbar. "Ich hätte gern etwas von der Bowle." Flötete sie mit Augenaufschlag. Und Boris strebte eilends auf den Ausschank zu. Ginnys Blick nutzte die Gelegenheit, um nach Rike Ausschau zu halten, aber die Freundin war nicht zu finden. Für einen Augenblick flackerte Panik in Ginny hoch, sollte Rike verärgert ohne sie gegangen sein? Dann aber schüttelte sie missbilligend den Kopf über die eigenen Zweifel. Rike würde sie niemals hängen lassen, das widerspräche ihrem Ehrgefühl und ihrer Verantwortung. Boris erschien und reichte ihr galant einen Becher Bowle. "Vielen Dank. Sag mal, du hast nicht zufällig meine Freundin gesehen?" Boris schüttelte den Kopf, während seine Schultern verräterisch zuckten. "Nein, tut mir leid. Ist sicher auf der Tanzfläche." Ginny lächelte gleichbleibend, während Boris auffällig unauffällig an sie heranrückte. "Nächste Woche steigt in Birnbach ein Schützenfest, kommst du dahin?" Ginnys Stirn runzelte sich, als sie den Ort geografisch einzuordnen suchte. "Ich weiß nicht mal, wo das ist." Bekannte sie mit einem schüchtern-auffordernden Lächeln. Boris wuchs förmlich vor ihr, während er die genaue Wegbeschreibung herunterleierte. "Ich könnte dich auch bei der Bushaltestelle Am Kupferhammer abholen!" Soufflierte er, offenkundig in Sorge, es könne am Transport scheitern. Ginny kaute grüblerisch am Rand ihres Pappbechers. Man benötigte keine telepathischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass er wollte, dass sie ohne Begleitung kam. Aus einer Laune heraus sagte sie zu, um sich dann ebenso flatterhaft mit einem hauchzarten Kuss auf die Wange zu verabschieden und in der Menge unterzutauchen. ~#~ Rike, in einer Semi-Trance gefangen und eingehüllt in den Geruch von Pechfackeln und Stroh, schreckte hoch, als Zimt ihre Nase reizte. Ginny hielt ihr einen mit Zimtglasur verzierten Apfel an die Lippen, während sie sich unbekümmert neben Rike auf den Strohsack hockte. "Probier mal, echt lecker!" Ihr Stimme kippte leicht, was Rike folgerichtig als Anzeichen milder Trunkenheit einordnete. Sie umfasste Ginnys Hand, um dann tatsächlich einen Biss in den Apfel zu wagen. "Hattest du keine Lust zu tanzen?" Rike schluckte an ihrem Bissen, unauffällig den Sitz ihrer Bluse korrigierend. "Zu viele Leute." Ginny legte vertraulich den Kopf auf Rikes Schulter und seufzte leise. "Schade. War toll." Rike drehte den Kopf vorsichtig, um Ginnys geschlossene Augen im Fackelschein zu betrachten. "Wo ist denn dein Verehrer abgeblieben?" Hakte sie, zu ihrer eigenen Verärgerung mit schnippischem Unterton, nach. "Hab ihn abgehängt." Murmelte Ginny beiläufig, schläfrig. "Besser, wir machen uns auf den Heimweg, sonst kippst du mir noch vom Roller!" Ordnete Rike an, stützte Ginny am Ellenbogen. "Aber das Feuerwerk!" Protestierte diese mit halber Kraft. "Das sehen wir uns unterwegs an." Versprach Rike geduldig, als habe sie ein übermüdetes Kind zu betreuen. Der Weg zum Parkplatz gestaltete sich ungleich schwerer. Nur wenige Lichter wiesen den Weg, der Kies trollte sich unter Ginnys unsicherem Schritt Richtung Tal, was ihr mehrfach spitze Schreie des Schreckens entlockte. Rike, die einen Sturz verhindern wollte, umfasste sie schließlich mit einem Arm an der Taille, während ihre Augen in der Dunkelheit nach schlüpfrigem Grund Ausschau hielten. Endlich war der Roller erreicht. "Warte mal." Bat Ginny, zog sich den Schmuckkamm aus ihren hochgesteckten Haaren, um diese dann aus ihrem Netz zu entlassen. Die langen Flechten schwangen frei bis zu ihren Hüften, als sie sich an Rike schmiegte, unter der abendlichen Kühle leicht fröstelnd, als habe sie all ihre Energie im Tanz verloren. Rike fuhr noch langsamer, den spärlichen Verkehr beobachtend, denn sie hatte wenig Lust, in den wöchentlichen Statistiken der Landstraßen-Raser als Ziffer zu erscheinen. Auf einem Feldweg, der von den Bauern benutzt wurde, hielt sie schließlich an. Ginny, aus einem leichten Schlummer geweckt, rieb sich kindlich die Augen, bevor sie Rikes Blick folgte. Durch eine natürliche Schneise lag die Burg genau im Blick. Und der einleitende Knall eines Böllers stellte die Ouvertüre des Feuerwerks dar. "Schön!" Murmelte Ginny versunken und noch immer an Rike gekuschelt. Diese schmunzelte über die Begeisterungsfähigkeit der Jüngeren. Als die letzten Funken im sternenklaren Himmel verglüht waren, nahmen sie schweigend die Rückfahrt in Angriff. ~#~ Rike schob den Roller an seinen angestammten Platz in der Garage, bevor sie umsichtig alle Tore verschloss und die Alarmanlage aktivierte. Ginny lehne bereits unterdrückt gähnend an der Haustür, ein träumerisches Lächeln auf den Lippen. Rike, die sich erneut an ein kleines Kind erinnert sah, nahm behutsam Ginnys Hand und zog sie hinter sich her in die Wohnetage, schob sie sanft vor sich her ins Badezimmer. Das Neonlicht entlockte Ginny ein protestierendes Stöhnen, aber Rike ignorierte den Laut des Missfallens souverän. "Du musst dich abschminken." Kommandierte sie, eingedenk der verstreuten Informationen über Make-Up, die sich wie Strandgut in ihrem Geist gesammelt hatten, ohne jemals Verwendung gefunden zu haben. "Hmm." Summte Ginny mit gesenkten Lidern, was Rike zu der Annahme veranlasste, ihre Freundin sei nicht mehr in der Lage, dieses Unterfangen eigenständig zu bewältigen. Mit konzentrierter Miene studierte sie den Inhalt von Ginnys Tasche, die die Fundgrube an Schminkutensilien enthalten hatte, fand endlich Watte und einen Tiegel. Mit einem einfachen Band zügelte sie Ginnys Haarpracht, um dann liebevoll das sanft glühende Gesicht zu reinigen. Dann half sie Ginny, sich des Kleides zu entledigen, die gazellenhaften Glieder mit einem feuchten Lappen abzureiben und in ein Nachthemd zu schlüpfen, wobei ihre Wangen erneut Feuer fingen. Rike schob Ginny in das Gästezimmer, schlug die leichte Decke auf und tippte die Freundin sanft auf die Schulter, damit diese im Halbschlaf die Matratze als solche erkannte und sich darauf zusammenrollte. Fürsorglich wickelte Rike die Decke um den schmalen Leib, strich verwirrte Strähnen aus dem friedlichen, gelösten Gesicht, um dann auf Zehenspitzen hinauszuhuschen. Für die eigene Toilette benötigte sie nur wenige Augenblicke, verharrte aber vor dem Spiegel, um ihr Alltags-Gesicht zu mustern. Sie war noch immer dieselbe, wie sie fand. Sollte sie enttäuscht sein? ~#~ Das Frühstück am nächsten Morgen verlief zwanglos, Rikes Vater verfolgte die neckende Unterhaltung der beiden Frauen mit Zufriedenheit. Es war eine sehr gute Entscheidung gewesen, seiner Rike diese hübsche junge Frau zur Seite zu stellen, lobte er sich selbst. ~#~ "Du hast mit ihm getanzt? Und weiter?" Melvine beugte sich interessiert und begierig auf weitere Enthüllungen vor, um Ginny direkt in die Augen sehen zu können. Diese wich der Attacke geschmeidig aus, lehnte sich auf dem Küchenstuhl zurück und kaute an einem Honiggebäck. "Nichts weiter." "Und jetzt? Willst du ihn wiedersehen? Wie alt ist er? Was ist sein Beruf? Hat er Geld?" Unter dem Trommelfeuer suchte Ginny kichernd Deckung hinter einem geblümten Sitzkissen. "Hey, immer langsam, ich kenne ihn doch noch gar nicht richtig!" Melvine schnalzte mit der Zunge, strich sich kontrollierend über die Locken. "Ginny, das sind die wichtigsten Informationen über einen Mann! Alles andere ist zweitrangig! Du musst noch eine Menge lernen." Schloss sie gönnerhaft. Ginny zuckte gutmütig mit den Achseln. Aus dem Wohnzimmer drang Geschrei herüber. Offenkundig störte Melvines Sprössling die Spielfreude von Erkan. Während Melvine sich mit wütendem Schnaufer erhob, um Frieden zu stiften, läutete es an der Wohnungstür. Ginny öffnete und erstarrte. »Metin.« "So eine Überraschung!" Flötete sie wenig überzeugend, hatte sie doch nicht erwartet, dass er bereits von seiner ausgedehnten Geschäftsreise zurückkehrt war. »Oder habe ich es einfach verdrängt?« Sie trat beiseite, um ihn einzulassen. Immerhin wusste sie Melvine in der Nähe, da konnte ein Herrenbesuch nicht als unschicklich gelten, auch wenn ihre Eltern nicht zugegen waren. Metins hartes Gesicht versprach nichts Gutes. "Bitte, gehen wir doch in die Küche, Erkan und Melvines Sohn liegen sich wegen des Videospiels in den Haaren." Geleitete sie Metin mit erzwungener Fröhlichkeit durch den Flur. Metin nahm auf der Eckbank Platz, steif und hoch aufgerichtet. "Kann ich dir etwas anbieten? Kaffee, Tee? Oder etwas anderes?" "Nein, danke." Ginny setzte sich auf ihren Stuhl und bemühte sich, die eisige Atmosphäre aufzutauen. "Wie war deine Reise? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du schon jetzt zurückkommen würdest." Der Blick aus den dunklen Augen versteinerte. "Wieso hast du gekündigt?" Ginny seufzte innerlich auf, jetzt hieß es Ruhe bewahren. "Metin, ich wollte mich verändern, es hat überhaupt nichts mit deiner Familie oder dem Reisebüro zu tun..." Startete sie einen beschwichtigenden Versuch, aber Metin schnitt ihr mit einer heftigen Handbewegung das Wort ab. "Ich glaube das nicht. Du arbeitest jetzt in einer Spedition, umgeben von fremden Männern. Was sollen die Leute denken?!" Ginny kämpfte gegen den überwältigenden Unmut, der ihre Unterlippe vorschob und eine steile Falte auf ihre Nasenwurzel zeichnete. "Metin, wirklich, das ist nicht ganz richtig, ..." "Kein weiteres Wort mehr!" Seine Hand ähnelte in ihrer Gestik einem Pascha. "Ich habe dich gesehen. Wie kannst du nur?" Metins Stimme, zunächst in tadelnder Trauer, kochte nun vor mühsam gebändigtem Zorn. Ginny spürte den Drang, diese Wut so lange zu provozieren, bis Metin explodierte. "Ganz einfach. Ich habe mich beworben, und man hat mich genommen." "Du wirst sofort kündigen." Ginny umklammerte das geblümte Kissen fest. "Ich denke nicht daran." Metin schraubte sich so vehement in die Höhe, dass der Tisch quietschend nach vorne katapultiert wurde. "Du kündigst!!" Ginny atmete tief durch, hielt seinem Blick stand, schlug stattdessen verachtungsvoll die Beine übereinander, eine Geste, von der sie wusste, dass sie Metin aufs Blut reizte. "Nein." "Dann werde ich für dich kündigen! Zu deinem eigenen Besten!" Alle Vorsätze vergessend schoss Ginny in die Höhe, wechselte in ihrer Erregung vom Türkischen ins Deutsche. "Das kannst du gar nicht!! Ich bestimme selbst über mein Leben, hörst du?! Und ich werde unter keinen Umständen kündigen!!" Metin brüllte nun auf Türkisch zurück, die Hände zu Fäusten geballt. "Du bist meine Verlobte und tust, was ich dir sage, klar?!" Ginny warf den Kopf in den Nacken, stemmte eine Hand in die Hüfte, eine Pose, die sie von Aretha Franklin abgeschaut hatte. Verachtung pur. "Ich werde dich nicht heiraten und wenn du der letzte Mann auf Erden bist, klar?!" Fauchte sie in einer perfekten Kopie seines Tonfalls zurück, noch immer auf Deutsch. Metin sprang vor, grub die Hand in ihre offenen Haare, um sie an sich heranzuziehen, die dunklen Augen vor blindwütigem Hass vernebelt. Ginny schrie vor Schreck und Schmerz, ballte die Fäuste und schlug wild um sich. "Aufhören!" Donnerte Melvine auf Türkisch dazwischen, was beide Streithähne auseinander brachte. In Melvines Gesicht stand Abscheu und Entsetzen vor dieser unwürdigen Szene. "Du gehst besser." Wies sie Metin an. Dieser strich sein Revers glatt und verließ die Wohnung, ohne sich umzublicken. Ginny sackte zittrig auf ihren Stuhl, umschlang mit beiden Armen ihren Oberkörper. Melvine kommentierte trocken und ohne Mitleid. "Ich habe es dir ja gesagt. Warte ab, wenn eure Eltern sich mit diesem Aufruhr befassen müssen." Ginny sah erschrocken hoch. "Du wirst mich doch nicht verraten?" Erkundigte sie sich erschüttert. Melvine schnalzte mit der Zunge. "Ich sicher nicht, mir reichte das eben vollkommen. Aber er wird unter Garantie nicht schweigen." ~#~ Rike spürte Ginnys Bedrückung, aber zaghafte Versuche, nach der Ursache zu forschen, schlugen fehl. Wie immer, wenn Ginny sich mit Problemen konfrontiert sah, die man nicht einfach durch ein Lächeln oder einen Konsens aus der Welt schaffen konnte, flüchtete sie sich in Aktivitäten und munteres Plappern. Und Rike zog sich zurück. ~#~ "Ginny?" "Ja?" Ginny räumte bereits ihre Habseligkeiten in eine Umhängetasche. Rike, entschlossen, sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, gleichgültig, wie lächerlich und albern es wirken mochte, drückte ihr einen Zettel in die Hand. Ginny inspizierte ihn mit der flackernden Aufmerksamkeit, die sie die letzten Tage allem geschenkt hatte. "Meine Privatnummer. Für Notfälle." Ginny nickte fahrig, um dann gedankenlos Rike um den Hals zu fallen. "Bis Montag!" Trällerte sie und verschwand hüftschwingend über den Hof. Rike grub unbewusst die Fingernägel in das Holz des Tisches, als sie der schlanken Gestalt mit den Blicken folgte, bis sie nicht mehr zu sehen war. ~#~ Ginny lachte laut, als Boris sie überschwänglich im Kreis herumschwenkte. Die Stimmung war gut, seine Clique nett, und Ginny fand es sehr einfach, sich selbst und all ihre Schwierigkeiten im Tanz zu vergessen. Sie verlor den Kontakt zu ihrer Umwelt immer wieder, in Tagträumen versinkend, während ihr Körper sich in Bewegung verausgabte. Und so entging ihr, dass die Atmosphäre sich wandelte, von aufgedrehter, schriller Fröhlichkeit in die aggressive Tonart des Jagdfiebers umschwang. Die unerträgliche Hitze tat ihr Übriges, um die Menschen zu wandeln. Nachdem ein Lied sein Ende gefunden habe, zog Boris Ginny nicht gerade sanft hinter sich her zu den Bänken, wo er sie ungefragt auf seinen Schoß zog. Ginny, die diese Intimitäten nicht unaufgefordert gewähren wollte, versuchte, sich mit einem leichten Lachen von ihm zu lösen, aber Boris widerstand mit funkelndem Blick, die Finger grob in ihre Taille bohrend. "Lass mich bitte aufstehen!" Forderte Ginny bestimmt, von einem unguten Gefühl beschlichen. "Wohin willst du denn? Ich bin hier, und dann bleibst du auch." Knurrte Boris selbstgefällig im Kreis seiner Freunde. Ginny presste die Lippen aufeinander, als Boris' Linke sich bereits in ihren Nacken schob, um ihr einen Kuss aufzuzwingen. Mit einem angewiderten Laut biss sie ihn heftig in die Lippe, noch bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Seine Schrecksekunde ausnutzend sprang sie auf, flüchtete in die Schatten. Panisch suchte sie sich zu orientieren, das Schützenhaus lag ein wenig außerhalb im Wald. Anhand der Geräusche, dem Brechen von Ästen und den Rufen, wusste sie, dass man nach ihr Ausschau hielt. Verängstigt kauerte sie sich in ein Erdloch und überdachte fieberhaft ihre Lage. Ihren Eltern, die eine zivile Aussprache mit Metins Onkel abgewickelt hatten, hatte sie versichert, bei Melvine zu übernachten. Unmöglich, dort auf Hilfe zu hoffen. Und Melvine, die sie widerwillig deckte, würde keinen Finger rühren, wenn sie nicht gerade in Todesgefahr schwebte. »Rike.« Rike hatte ihr doch die Privatnummer gegeben! Ginny fragte sich angstvoll, ob sie es bewältigen würde, statt des nahegelegenen Ortes, wo man ihrer mit Sicherheit auflauerte, durch den Wald am nächsten Rastplatz eine Telefonzelle zu finden. ~#~ Rike schreckte aus oberflächlichem Schlaf hoch, als das Läuten die stickige Luft durchdrang. Mit bleischwerem Kopf schleppte sie sich in den Flur und nahm ab. "Ja, bitte?" "Was?" "Nein. Nein, beruhige dich erst mal, okay?" "Wo genau ist das?" "Ginny! Ginny, nicht weinen, ich finde das! Bestimmt!" "Okay, hör zu! Hast du eine Uhr?" "Gut, schau drauf, ja? Ich bin in einer halben Stunde bei dir. Versprochen!" "Nein, nicht dort. Versteck dich wieder und komm erst raus, wenn ich da bin, klar? Ich nehme den Bus!" Rike hängte ein, wischte sich energisch mit der flachen Hand über das Gesicht, kehrte eilig in ihr Zimmer zurück, um sich anzukleiden. Und eine Nachricht für ihren Vater zu hinterlassen, sollte dieser in der Zwischenzeit seine Tochter vermissen. Als sie die Garage öffnete, zuckte ein Blitz über den Himmel. Rike fluchte leise. »Ein Gewitter. Einfach prächtig.« ~#~ Ginny klebte förmlich am Stamm einer Eibe, das Harz verschmutzte ihr Kleid, ihre nackten Beine. Aber der Baum bot ausreichend Aufstiegsmöglichkeiten und Schutz vor den kreisenden Autos. Ihre Verfolger waren nicht dumm gewesen, sie hatten offenkundig festgestellt, dass sie die Alternative gewählt hatte. Das Kreischen und Johlen verängstigte sie vollkommen. Als ein Blitz den Himmel aufriss, musste sie einen panischen Schrei unterdrücken. Und nun klatschten die ersten schweren Tropfen auf Laub und Asphalt der nahegelegenen Landstraße. Es kühlte merklich ab. Ginny weinte bittere Spuren in die Harzflecken in ihrem Gesicht, als sie sich trostsuchend an den Baum schmiegte. ~#~ Rike schleuderte ein beachtliches Repertoire an Flüchen heraus, als sie den Mannschaftsbus antrieb, die Scheibenwischer auf höchster Stufe rotierend. Die Straße war kaum zu erkennen, glücklicherweise kein Verkehr zu dieser späten Stunde. An jeder Ampel hatte sie die Zeit genutzt, sich auf der Karte zu orientieren, aber das half im Herzen des Gewittersturms kaum. Sie fuhr mehr nach Gefühl als Kenntnis oder Sicht. Als endlich die vereinsamte Telefonzelle auf dem Waldparkplatz im Scheinwerferlicht auftauchte, blendete sie mehrfach auf. Durch das grelle Licht fiel es ihr schwer, den Vorhang aus Regen und Dunkelheit auf Bewegungen zu durchdringen. Mit einer finsteren Beschwörung entriegelte sie die Tür, eine Brechstange kampfbereit in der Rechten. Nach wenigen Schritten auf den Saum des Waldes zu war sie bereits durchnässt. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte sie schwingende Äste an einem gewaltigen Nadelbaum, dann plumpste eine Gestalt in einer Art ärmellosem Nachthemd auf den Boden. Sich aufraffend torkelte sie wie ein Gespenst auf Rike zu, lange Haare klebten ebenso eng wie das schmutzige Kleid an einem Körper, der sich nur zu deutlich abzeichnete. "Ginny?" Brüllte Rike durch die Schauer, zusammenzuckend, als ein Blitz über ihnen in den Wald fauchte. Ginny beschleunigte, warf sich hysterisch heulend in Rikes Arme, umklammerte sie mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden. Rike, die ihren Schreck rasch überwand, schlang einen Arm eng um die bebende Freundin, um sie dann mit Entschlossenheit zum Bus zurückzuzerren. Es kostete sie weit mehr Anstrengung, Ginny zu bewegen, sie wenigstens so lange loszulassen, bis sie um die Motorhaube zur Fahrerseite herumgeschlüpft war. Erst als die Haken in der Tür verriegelnd einrasteten, atmete Rike aus. Ginny klebte an ihrem Hals wie ein verängstigtes Tier, nur noch Instinkt. Ungeachtet dieser Behinderung setzte Rike den Wagen in Bewegung. Sie hatte zwar kein klares Bild von der Situation, aber es war hier entschieden zu finster und zu stürmisch unter den Bäumen, als dass sie auf Aufklärung warten wollte. Im Schritttempo entkam sie Gewitter und Wald mühsam, erreichte die offene Landstraße. Ginny, die ihr fast auf den Schoß gekrochen war, weinte unaufhörlich, vollkommen durchnässt und vor Kälte zitternd. Ein plötzlicher Ruck ließ Rike zusammenfahren. Nach einem besorgten Blick auf das Armaturenbrett fluchte sie unterdrückt. »Bitte, nicht das auch noch!« Aber es half kein Flehen, die Anzeige stand eindeutig auf Reserve. Mit eingeschalteter Warnblinkanlage lenkte sie den Bus im Leerlauf auf einen Wirtschaftsweg, bis der Motor erstarb. Ginny, die sich auf ein beständiges, durchdringendes Wimmern verlegt hatte, presste sich noch erstickender an Rike. Rike umarmte sie fest und flüsterte in die verklebten Strähnen. "Ginny, der Sprit ist alle." Ginny schluchzte leise. "Ich könnte eine Tankstelle suchen." Bot Rike widerstrebend an, denn es regnete noch immer junge Katzen und Hunde. "Nicht weggehen!" Flehte Ginny an ihrem Hals zittrig. "Okay." Versprach Rike beruhigend, strich kräftig über den verkrümmten Rücken, um wieder Wärme in die fragile Gestalt zu bringen. "Ginny, lass mich bitte mal los, ja?" Rike musste ihre Bitte noch zwei weitere Male wiederholen, bis sich Ginny langsam auf den Beifahrersitz zurückzog. Rike lächelte so aufmunternd, wie es ihr möglich war, wies dann auf den nassen Fetzen, der vor wenigen Stunden ein helles, leichtes Sommerkleid mit Spaghetti-Trägern gewesen war. Nun hatten Regen, Dreck und Harz ihm ein grausiges Ende bereitet. "Komm, wir machen es uns hinten bequem und morgen hole ich meinen Vater." Erklärte Rike, das Mobiltelefon schwenkend, das in seinem Holster lagerte. Als sie Anstalten machte, die Tür zu öffnen, um auszusteigen, griff Ginny blitzartig nach ihrer Rechten, um sie festzuhalten. Rike quietschte überrumpelt, fasste sich dann aber. "Ginny, ich gehe nur um den Wagen rum, mache dir auf, und dann geht's durch die Schiebetür nach hinten, okay? Schau mal, ich will nicht über das ganze Werkzeug klettern müssen, das hinter der Sitzbank hier steht." Sie erkannte, dass Ginny ihr inhaltlich nicht folgen konnte, die dunkelbraunen Augen trübe vor Angst, aber die ruhige, besänftigende Qualität ihrer Stimme erreichte ihr angestrebtes Ziel. Ginny gab ihre Hand frei und wartete zusammengekauert darauf, dass Rike ihr aus dem Bus half, um dann durch die Schiebetür in den Fond zu klettern. Geübt klappte Rike die Sitze um, zerrte Decken hervor. "Du musst aus dem nassen Zeug heraus." Wies sie energisch an, ihre übliche Verlegenheit unterdrückend. Ginny starrte sie regungslos an. Rike straffte sich, krabbelte dann auf Ginny zu, legte sanft ihre warmen Hände auf die durchgefrorenen Schenkel. Wickelte behutsam den Saum des Kleides um, schob es über die Hüften hoch, bis sie es vorsichtig über die verklebte Mähne und die steifen Arme schieben konnte. "Okay." Lächelte sie aufmunternd, betrachtete entsetzt die Kratzer und Schürfwunden auf Ginnys Gliedern, die vom engen Kontakt mit der Eibe stammten. "Scheiße." Entfuhr ihr, bevor sie sich beherrschen konnte, aber Ginny war zu verschreckt, um daran Anstoß zu nehmen. Hastig fischte Rike hinter dem Beifahrersitz nach dem Verbandskasten, klappte diesen auf, riss eine Packung Desinfektionstücher auf. Begann, vorsichtig die Wunden an Ginnys Arm abzutupfen. Drei Reinigungstücher später waren auch die Beine von Blut und Harz befreit. Ginny zitterte mit klappernden Zähnen vor sich hin, verfolgte betäubt Rikes Beistand. Rike betrachtete die durchgefrorene Freundin, wies dann auf den durchscheinenden BH. "Ginny, der muss auch runter, genauso wie der Slip. Sonst holst du dir eine üble Erkältung." Nachdem sie vergeblich auf eine Reaktion gewartet hatte, machte sich Rike mit unsicheren Fingern daran, langsam um Ginny herumzugreifen und an ihrem Rücken den Verschluss aufzuhaken. Ginny leistete keinerlei Gegenwehr, ließ sich auch reglos in die grobe Decke wickeln, die eigentlich zum Abdecken von Transportgut gedacht war. "'Tschuldige!" Murmelte Rike hochrot, als sie Ginny vorsichtig auf die umgelegten Polster der Sitze hob und ihr den Slip über die ausgekühlten Beine zog. Ginny klapperte mit den Zähnen, verfolgte Rike aber mit weit aufgerissenen Augen unverwandt. Diese lächelte hilflos, streifte das eigene Hemd über den Kopf, schälte das T-Shirt herunter und wand sich aus ihrer Arbeitshose. Dann rutschte sie entschlossen neben die verkrümmte Gestalt, kroch unter die Decke und umarmte Ginny eng, schmiegte sich fest an sie, um ihre Körperwärme weiterzugeben. Weitere Blitze zuckten über sie hinweg, aber Ginny, den Kopf in Rikes Halsbeuge verborgen, winselte nicht mehr. ~#~ Der Morgen kündigte sich mit der aufsteigenden Sonne an, die Rikes Augen blendete. Sie streckte sich vorsichtig, das Gewicht auf Brust und Bauch behutsam ausbalancierend. "Autsch!" Stöhnte sie leise, die unbequeme Haltung auf den viel zu kurzen Polstern beklagend. Ginny murmelte im Schlaf Unverständliches, bewegte sich träge, ihre wirren Haare kitzelten Rike unter dem Kinn. "Ginny?" Raunte sie leise, die schmale Gestalt streichelnd. "Hmmmmm." Summte Ginny heiser, stemmte sich auf die Arme hoch, um erst danach vage zu registrieren, dass sie sich auf Rikes kurzen Rippen aufstützte. Sich auf die Hacken setzend presste sie einen Arm quer über ihre Augen und atmete tief ein. Rike, nun ungehindert den Blick auf ihre unbekleidete Freundin gerichtet, eingehüllt in eine Korona aus Morgensonne, richtete sich ebenfalls auf, verstohlen die Rippen reibend. Zögernd streckte sie die Hand aus, um Strähnen aus Ginnys Gesicht zu pflücken, als diese leise zu weinen begann. "Hey, hey!" Raunte Rike krächzend, bot Ginny ihre Schulter als Halt, über den nackten Rücken streichend. Ginny stöhnte leise, schlang von Erinnerungen und vergangenen Schrecken überwältigt trostsuchend die Arme um Rikes Hals und presste sich fest an sie. "Schsch, ist alles okay, nicht mehr weinen, ja?" Versuchte Rike ihre bebende Stimme unter Kontrolle zu bringen. Sie fühlte sich keineswegs gut, übermüdet, verwirrt und verspannt, da tat Ginnys Kummer ein Übriges, um sie mutlos zu stimmen. Rike vergrub wie ein Vexierbild ebenfalls das Gesicht an Ginnys Hals, wünschte sich weit weg in ihr Bett. Als ihr ein gequälter Seufzer entschlüpfte, löste sich Ginny leicht von ihr, betrachtete Rikes müdes Gesicht erstaunlich klar. Wortlos wanderten ihre rotgeränderten Augen über die fleckig-bleiche Haut, die beschlagenen grünen Augen, die ausgetrockneten Lippen. Sie war gekommen. Mitten in der Nacht, in einem scheußlichen Gewitter, allein in den Wald. "Danke!" Wisperte Ginny unter Tränen, küsste Rike sanft auf einen Mundwinkel. Spürte die Wärme, den sie umwölkenden Atem, den Herzschlag an ihrer Brust. Vertraut fremd, verlockend verboten. Ginny schloss die Augen, hauchte sanft auf Rikes raue Lippen, streifte sie kaum wahrnehmbar. Rike fuhr sich unbewusst mit der Zungenspitze über die gespannte Haut, berührte ungewollt Ginnys Lippen für Sekundenbruchteile. Ein kurzer Blitz durchfuhr sie beide, von Überraschung durchsetzt. Ginny zog sich ein wenig zurück, streifte Rikes Nasenspitze neckend, während sie sich bemühte, dem Zittern Herr zu werden, das ihren Körper durchlief. »Ich bin erschöpft, durchgefroren, vielleicht erkältet!« Entschuldigte sie sich selbst. Ihre Lippen suchten selbsttätig nach der Wärmequelle, die sie magisch anzog, badeten in Rikes erhitzt fliehenden Atemzügen, bevor sie mit sanftem Nachdruck die angespannte Haut liebkosten. Rike erwiderte den Kuss behutsam, mit angehaltenem Atem, als Ginny ihre Lippen trennte, neugierig die Zungenspitze über Rikes Oberlippe gleiten ließ. Keuchend musste sie der Notwendigkeit nach Sauerstoff nachgeben, auf den kühlen Lippen Salz und den erdig-frischen Geschmack von Gewitterregen aufnehmend. Gewährte der betäubten Zunge Einlass zu ihrem Gaumen, glühte mit intensivem Kuss das Eis aus Ginnys Mund und Seele. Sie lösten sich stumm voneinander, die Arme noch immer umeinander geschlungen, betrachteten sich in der Morgensonne. Alles neu und dennoch wie immer. ~#~ Ginny nieste leise, fuhr sich dann verlegen mit der Hand durch die wirre Mähne, blieb auf halber Höhe hängen. Rike wickelte sie vorsichtig in die Decke, angelte das Mobiltelefon aus seiner Station. "Vater?" "Ja, richtig. Nein, der Sprit ist uns ausgegangen." "Kirchfeld, der Wirtschaftsweg." "Danke!" Rike beendete das Gespräch und warf Ginny einen ruhigen Blick zu. Sie zog ihr eigenes T-Shirt heran, prüfte es kritisch. "Hier, zieh das über, es ist trocken." Dann schlüpfte sie rasch in ihre Arbeitshose, streifte das Arbeitshemd über. Ginny kämpfte sich mit Haarwust in das Shirt, senkte den Blick wieder. "Was... was wird dein Vater bloß denken..." Flüsterte sie beschämt. Rike schob energisch die Tür auf und kletterte ins Freie. "Keine Ahnung. Ich wüsste allerdings auch gerne, was passiert ist." Ginny schniefte leise, richtete sich dann auf und kroch hinter Rike aus dem Bus. Sie hockte sich auf die Schwelle, die Decke um sich gewickelt. Dann erzählte sie Rike von den Ereignissen der letzten Nacht, ihren Ausreden, der panischen Flucht. Über das Gefühl, vollkommen verlassen durch die Dunkelheit zu irren, Äste, die über ihre nackten Glieder peitschten. Noch immer das Gejohle dieser wilden Tiere hinter sich, die sich vor ihren Augen in erbarmungslose Bestien verwandelt hatten. Rike ging vor ihr in die Hocke, streichelte sanft über die ineinander verkrallten Finger. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, alle diese Erlebnisse waren ihr fremd. Eine Hupe heulte hinter ihnen auf, als Nummer 4 in den schmalen Weg einbog. Rike stand auf und winkte ihrem Vater. Dieser hielt an, sprang schwungvoll aus dem Fahrerhaus und musterte seine Tochter kritisch. "Morgen, Rike." "Morgen, Vater." Entgegnete Rike, umrundete bereits die Ladefläche, um sich an der Seite hochzuziehen und den festgeschnallten Reservekanister aus der Verankerung zu lösen. Ginny erkämpfte ein unsicheres Lächeln auf ihre Lippen, fest in die Decke gewickelt, begegnete dem besorgten Blick schüchtern. Sie schämte sich über alle Maßen, ihrem Arbeitgeber in einem solchen Aufzug gegenüberzustehen. "Na, Ginny, was ist denn bloß mit Ihnen passiert?" Der Schnurrbart wurde ratlos gezwirbelt. Bevor Ginny eine Erklärung formulieren konnte, stapfte Rike heran. "Vater, hilf mir gerade mal mit dem Umfüllen, ja? Ginny muss dringend ins Warme, wir sind in das verdammte Gewitter geraten! Und dann ohne Sprit!!" Rikes Vater assistierte mit gerunzelter Stirn. "Was ist das denn für ein Früchtchen, der einfach ein Mädel bei dem Sauwetter im Wald stehen lässt?!" "Ein dummes Arschloch." Fauchte Rike knapp. Die Gewitterwolken über ihrem Kopf signalisierten ihrem Vater, dass er besser weitere Erkundigungen über diesen Vorfall einstellte. Als der Bus mit ausreichend Betriebsstoff versorgt war, um den Weg bis zur nächsten Tankstelle zu bewältigen, tauschte Rike mit ihrem Vater die Zündschlüssel. Sie schob Ginny in das Fahrerhaus von Nummer 4, nickte ihrem Vater durch das heruntergelassene Fenster zu und setzte rückwärts auf die Landstraße zurück. Ginny klapperte erneut mit den Zähnen neben ihr, als sie den kleinen Transporter Richtung Heimat lenkte. ~#~ "Okay, heiße Dusche, dann Bett!" Stellte Rike den Ablaufplan klar, rieb sich über die entzündeten Augen. Ginny schlüpfte zitternd aus Decke und T-Shirt, umklammerte ihren schmalen Oberkörper verkrampft. "Haare!" Stammelte sie frierend. Rike nickte diensteifrig, wies Ginny an, sich in die Dusche zu knien, um den wärmenden Wasserstrahl mit der Brause zunächst so tief zu justieren, dass er ihren Oberkörper erfasste. Mit hochgekrempelten Ärmeln versuchte sie dann, einen grobzinkigen Kamm in die wirre Mähne grabend, die langen Flechten zu entwirren. Allein, das Harz hatte sich verhärtet, Nester gebildet. Ein Durchkommen hätte das Ausreißen der Strähnen bedeutet. Ginny wimmerte vor Erschöpfung, als Rike mit einem frustrierten Grunzen ihr Vorhaben aufgab. "Ich kann nichts machen, das Harz sitzt bombenfest." "'bschneiden!" Stieß Ginny bebend hervor, in Nachwirkung des Schocks. Rike zögerte. Sie wusste zwar, dass dies die einzige Option war, allerdings wollte sie nicht die prachtvollen Wellen grob stutzen. "Rike!" Ungeduld und Müdigkeit schmuggelten einen quengelnden Unterton in Ginnys Stimme. Rike seufzte geplagt, säbelte dann auf Nackenwirbelhöhe die Strähnen ab, sammelte sie in einer Mülltüte. Ginny wand unruhig ihren Kopf frei, schäumte sich hastig mit Seifenschaum ein, übergoss sich mit brühwarmen Wasser, um dann klapprig aus der Duschwanne zu klettern. Rike reichte ihr ein Handtuch, widerstand der Versuchung, die schmale Gestalt zu frottieren. Stattdessen wechselte sie in ihr Zimmer, suchte ein großes Shirt heraus. Als sie sich umdrehte, stand Ginny bereits hinter ihr, die Lider auf Halbmast gesenkt, schon in Schlaf gefangen. Willig wie eine Gliederpuppe ließ sie sich das Shirt überstreifen, in Rikes Bett schieben und zudecken. Rike kämmte die dampfenden Strähnen aus dem gezeichneten Gesicht, verdunkelte den Raum, um die Sonne und mit ihr die Hitze auszusperren und verließ auf Zehenspitzen den Raum. ~#~ "Rikelein, du solltest dich auch hinlegen." Rikes Vater musterte besorgt seine Tochter, die vor dem Herd leicht schwankte, immer wieder kieferbrechendes Gähnen erstickte. "Bin noch nicht fertig mit der Arbeit." Murmelte Rike mit schwerer Zunge. "Unsinn, Kind! Du verschwindest jetzt aber hurtig in der Koje, klar?" Energisch drängte sich Rikes Vater an den Herd, nahm ihr den Löffel aus den fahrigen Fingern und warf ihr einen finsteren Blick zu. Dass Rike ohne Protest die Treppe hinaufkletterte, zeigte ihm nur zu deutlich, dass seine Tochter erholsamen Schlaf dringend nötig hatte. ~#~ Rike torkelte in ihr Zimmer, die Augen geschlossen, streifte unbeholfen Hemd und Hose ab, kroch dann in ihr Bett, wo sie einem unerwarteten Hindernis begegnete. Ihr überlasteter Verstand registrierte Ginny als nicht weiter Aufmerksamkeit fordernd, also gab er sein Placet, und Rike kuschelte sich an die Freundin und schlief sofort ein. ~#~ Ginny blinzelte, als ihr Körper meldete, dass er sich wieder bereit fand, dem Tag zu begegnen. Ihre Augen suchten im Zwielicht den Raum ab, erkannten die vertraute Decke, das Fenster mit den schweren Holzrollläden. Sie drehte sich auf die Seite und sah sich Nasenspitze an Nasenspitze Rike gegenüber, die schlief. Ihr warmer Atem streifte durch Ginnys Haare, erhitzte ihre Haut. Vorsichtig schlichen sich Ginnys Fingerspitzen über den dunkelblonden Haaransatz, folgten den sanften Kurven bis zur Ohrmuschel. Durch das Ausbleiben von Abwehrreaktion ermutigt, wanderten sie dann hauchzart über die Augenbrauen, übersprangen die sommersprossigen Wangenknochen, um spielerisch den geschwungenen Lippen Kontur zu geben. Ginny rückte noch näher heran, wollte die vertrauliche Atmosphäre nutzen, sich Einzelheiten einzuprägen wie ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Als ihre Fingerspitze die zarte Haut der Unterlippe erkundete, bemerkte sie einen veränderten Atemrhythmus. Rike hatte die Augen aufgeschlagen und betrachtete sie forschend. Ihre Blicke trafen sich schweigend. Ginny lächelte träge, zog langsam die neugierigen Finger zurück. Rike befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lippen, ohne Ginny für einen Wimpernschlag aus ihrem Bann zu entlassen. Ihre kräftige Hand unter der Decke hervorschälend wischte sie sanft eine nun gekürzte Strähne aus Ginnys Gesicht, streichelte zärtlich über die glatten Wellen, die im Zwielicht schimmerten wie gegossenes Pech. Ginny schnurrte leise, kuschelte sich eng an Rike, spielerisch Rikes Nase leckend, als sei sie tatsächlich ein vorwitziges Kätzchen. Rike ging auf die Offerte ein, knurrte leise, sich auf den Rücken drehend und Ginny auf sich ziehend, eine Hand fest in Ginnys Nacken. Diese kicherte leise, die Eruptionen glitten wie ein Flächenbrand über ihre Körper. Glühendes Prickeln durchdrang den dünnen Stoff ihrer Shirts, elektrisierte sie. Ginny zwinkerte unvermutet, schloss die Augen, eingehüllt von Rikes hitzigem Atem, der erschrocken entfloh, dann küsste sie vorsichtig die geöffneten Lippen. Rikes Griff in den zarten Nacken steigerte sich Sekundenbruchteile in seiner Intensität, dann entspannte sie sich, liebkoste behutsam die wagemutigen Lippen mit der Zungenspitze. Ginny schob sich automatisch ein wenig höher, um die Ellen auf dem Kissen Rikes Haupt flankierend aufstützen zu können, während sie neugierig deren Gaumen erforschte. Vage registrierte sie, dass mit jeder schlängelnden Bewegung, die ihre Körper aneinander rieb, sich Rikes Fingerspitzen härter in ihren Rücken bohrten, ihr Shirt hochschiebend. Mit einem tiefen Zungenkuss löste sich Ginny, richtete sich auf, um mit geschlossenen Augen das Shirt endgültig über den Kopf zu streifen. Rike, die kaum noch das Gewicht auf ihren Hüften spürte, keuchte flach, verschlang mit weit geöffneten Augen Ginnys geschmeidige Bewegungen. Ginny schmiegte sich tiefer an Rike, fädelte mit den schlanken Händen den Saum des T-Shirts auf, um dieses dann langsam, aber beharrlich über Rikes üppige Figur aufzurollen. Beim ersten gegenseitigen Kontakt nackter Haut schreckten beide zurück, um sich dann erneut einander anzunähern. Rike versank in mystischer Dunkelheit, als Ginnys schwarze Mähne sie wie ein undurchdringlicher Vorhang verhüllte. Schauer trieben durch ihren Körper, die sich nur durch die glühende Hitze fremder Haut bannen ließen. Ihre Hände irrten suchend über Ginnys knochigen Rücken, kerkerten die spielerischen Ausbruchsversuche der geschmeidigen Freundin mit kräftigen Armen ein, erstickten neckenden Protest mit verlangenden Küssen. Ginny entschlüpfte der verzweifelten Leidenschaft mit brennenden Küssen, sich langsam der Erkundung der unbekannten Landschaft unter sich hingebend. Lauschte verzückt dem Tremolo des Herzschlags, sog tief den vertrauten Geruch ein, um ihr Revier mit Beharrlichkeit und einer hauchzarten Speichelspur zu markieren. Rike stieß leise, helle Laut der Lust aus, als Ginny ihre Brüste mit der Zunge verzierte, die kräftigen Rippen ihres Brustkorbs mit Bissen reizte. Durch ihren Körper tobte ein blitzeschleudernder Wirbelsturm aus Flammen, der sie in Brand setzte und nicht ruhte, bis sie zu glimmender Asche verging. ~#~ Sie lagen nebeneinander, verfolgten die gleichmäßige Melodie ihrer Atemzüge, nur die Hände verschlungen in Kontakt. Ein angenehmes, erfüllendes Prickeln durchstreifte ihre nackten Körper, trocknete dünne Schichten Feuchtigkeit. Sie verloren die Zeit in ihrem einträchtigen Schweigen, ohne Bedauern. ~#~ Ginny drehte sich leise ächzend auf die Seite und richtete sich auf. Die nun schulterlangen Haare aus dem Gesicht kämmend hockte sie sich neben Rike, die sie stumm betrachtete. Unbewusst kreiste Ginnys Hand über Rikes festem Bauch, gleichmäßig, sanft. "Ich sollte besser gehen." Rike stützte den Kopf auf eine Hand, ohne der zärtlichen Massage verlustig zu gehen. "Vorher musst du etwas essen." Ginny drehte eine Strähne um ihren Finger, schwieg anhaltend. "Was wirst du ihnen sagen?" In Rikes Gesicht schlug sich Sorge nieder. Ginny zuckte mit den Achseln, während verschiedene Emotionen wie Wolken über ihr Gesicht zogen. "Spielt keine Rolle." Stellte sie dann tonlos fest. "Ich habe auch keine Ahnung, wie ich meinen Aufzug erklären sollte. Und Melvine wird mich nicht so weit decken." Rike setzte sich auf, streichelte mit den Fingerknöcheln beunruhigt über Ginnys Wange. "Was bedeutet das?" Ginny wandte den Kopf ab, spannte sich an, um dann mit einem Räkeln zu gähnen. "Frag mich nicht. Das ist das erste Mal, dass ich mich in solche Schwierigkeiten bringe." Rike runzelte die Stirn. "Warum hast du das wegen diesem Kerl riskiert?" Ginny ließ sich mit ausgebreiteten Armen rücklings auf die Matratze fallen. "Ich hab mich treiben lassen, einfach so, ohne einen Gedanken zu verschwenden." Bekannte sie ruhig. "Ich wünschte, ich wäre wie du, so konzentriert und klug. Dann hätte ich gleich gemerkt, dass es eine dumme Idee war." Sie legte einen Arm über die Augen. "Aber so bin ich nun mal, oberflächlich und flatterhaft." Rike beugte sich vor, zog Ginnys Arm von ihren Augen. "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass es erstrebenswert ist, wie ich zu sein?!" Ihre Augen funkelten selbst im Zwielicht unheilvoll. Ginny blinzelte erstaunt, lächelte dann nachsichtig. "Als ich dich das erste Mal sah, so tüchtig und entschlossen, so stark in deinem Willen, da war ich sehr neidisch. Du weißt, was du tust, und auch warum." Rike fauchte, noch bevor sie sich zurückhalten konnte. "Ach ja? Als ich dich das erste Mal sah, habe ich dich gehasst, weil jeder dich auf Anhieb mochte! Freundlich, sanft und mitfühlend! Und bildhübsch, was ich niemals sein werde!" Ginny runzelte die Stirn, keineswegs verärgert, in Verwunderung. "Aber du bist hübsch." Rike zischte lautlos, kehrte Ginny den Rücken zu, die Beine vor die Brust gezogen. Ginny setzte sich auf, umarmte Rike von hinten zärtlich. "Dummerchen, hast du nicht bemerkt, dass eine Menge Männer dir auf dem Fest hintergesehen haben? Sie haben sich bloß nicht getraut, dich anzusprechen, weil du so selbstsicher bist." Rikes Augenbrauen wanderten zweifelnd in die Höhe, aber ihre stumme Blockadehaltung bröckelte bereits. "Ich habe meinen Vater und die Spedition. Ganz schön armselig als Lebensentwurf, oder?" Spottete Rike bitter. Ginny rieb ihre Wange an Rikes, ein sanftes Lachen perlte wie Champagner über ihre Lippen. "Ich würde sagen, wir ergänzen uns perfekt." Neckte sie liebevoll. "Ich habe keine Ahnung, was ich mit mir anfangen soll." Dann löste sie sich von Rike und erhob sich federleicht. "Leihst du mir etwas zum Anziehen?" Rike stemmte sich ebenfalls hoch, öffnete einladend ihren Kleiderschrank, schlüpfte gleichzeitig wieder in ihre Wäsche. "Ich habe deine Unterwäsche gereinigt und zum Trocknen aufgehängt, ich hole sie gleich." Als Rike zurückkehrte, strich Ginny gerade selbstvergessen über ein altes Flanellhemd mit dunkelgrünen Karos. "Bist du sicher?" Runzelte Rike die Augenbrauen überrascht, handelte es sich doch um eines ihrer ältesten Kleidungsstücke. Ginny, bereits in Unterwäsche, drehte sich in einer Pirouette, die Haare wie ein samtig-schwarzer Lampenschirm auffächernd. "Ja." Sie zwinkerte verschwörerisch, während sie in eine abgeschnittene Jeans stieg, den Gürtel fest um ihre schmale Taille ziehend. "Ich fühle mich, als habe man ein Bleigewicht von mir genommen." Ihre Finger durchforschten müßig die glatten Strähnen, während ihr Blick sich in Rikes Augen einbrannte, verschwörerisch und ernsthaft zugleich. "Das hätten wir viel früher tun sollen." ~#~ Rikes Vater beobachtete versonnen, wie sich die beiden jungen Frauen in den Arbeitsklamotten am langen Tisch niederließen, schweigend Suppe löffelten und sich ein Brötchen teilten. Das einträchtige Lächeln, das die sanft geröteten Gesichter verzauberte, verwirrte ihn, aber er wandte sich innerlich achselzuckend seinem Radio zu. Fußball war einfache Kost, und schließlich war es Sonntag. ~#~ Rike lehnte sich an das Tor. "Soll ich dich nicht mit dem Bus vorbeibringen? Ist doch viel bequemer." Ginny lachte leise, drückte Rikes Hand. "Danke, aber ich brauche Bewegung, um ein bisschen nachzudenken." "Also bis morgen." Wisperte Rike heiser, unruhig an der schmalen Hand zupfend. "Ja, bis morgen." Bestätigte Ginny sanft, aber ihre Finger blieben in der kräftigen Hand gefangen. "Rike?" Kicherte sie nachsichtig. "Ich hasse dich nicht." Raunte Rike hastig, beschwörend. Ginny hob die freie Hand, um zärtlich und federleicht über die sommersprossige Wange zu fahren. "Und ich bin nicht neidisch." Zwinkerte sie leise. Auf Rikes Zügen scheute ein spöttisches Lächeln, um dann die Lippen zu kräuseln. "Was auch passiert, ich bin da." Bekundete sie ihre Unterstützung. Ginny nickte leicht, befreite sich. "Ich weiß." ~#~ Ginny starrte die Zimmerdecke an. Hausarrest wie ein Kind. Das wäre erträglich, wenn nicht ein schlimmeres Urteil über ihrem Kopf lauerte wie ein Damoklesschwert. Kündigen, um Frieden zu stiften, oder das Risiko eines Bruchs mit der Familie auf sich nehmen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und kuschelte sich tiefer in das Flanell. Es roch vertraut und beruhigend nach Rike, vermittelte ihr Sicherheit. »Nun kann ich nicht mehr entkommen, habe mich dieses Mal so tief in meine eigenen Träume versponnen.« Die Wut und Enttäuschung darüber, dass ihre Eltern dem Druck der Nachbarn und Bekannten, und letztlich auch Metin, nachgegeben hatten, war rasch verraucht, weil sie ja durchaus ihre Beweggründe verstehen konnte. Es war ein guter Kompromiss, bei dem niemand das Gesicht verlor. Allerdings wusste auch niemand von ihnen, dass viel mehr auf dem Spiel stand. Dass aus Spiel Ernst geworden war. Sie musste eine Wahl treffen. ~#~ Rike warf einen sorgenvollen Blick auf das verschlossene Gesicht mit dem straffen Zopf. Ginny wich ihr nicht aus, weder den zarten Berührungen, wenn sie sich streiften, noch ihren Fragen, aber sie blieb seltsam unbeteiligt. »Sie bereut es.« Hämmerte es Rikes Kopf. »Wahrscheinlich feilt sie an der Formulierung, wie sie mir die Wahrheit ins Gesicht sagen wird.« Verzweiflung spülte sich sauer wie Übelkeit hoch, trieb sie in die Senkrechte. Ginny, die gerade die Kaffeemaschine auffüllte, keuchte leise, als Rike sich direkt vor ihr aufbaute, ihre Hände fest auf die Arbeitsfläche presste. "Sag mir, was geschehen ist!" Keine Bitte, eine flehende Forderung. Ginny lächelte in Reflex müde, dann lehnte sie sich an Rike an. Mutlos und still hatte sie Ginny noch nie erlebt, was ihr eisige Schauer über den Rücken jagte. "Du willst gehen, oder? Alles vergessen?" "Weißt du, was ich heute Nacht geträumt habe?" Entgegnete Ginny rhetorisch, kaum hörbar. "Ich fand einen Drachen mit Schuppen, so schwarz, dass selbst das Licht sich vor ihnen fürchtete. Zusammengerollt schlief er geborgen in einer Höhle. Als ich ihn berührte, erwachte er, bäumte sich auf, hakte seine Klauen in die Wände, die Augen blutrot. Sein Flammenstoß verbrannte zu Asche, was er traf. Doch wenn ich ihn streichelte, liebkoste, seiner Schönheit schmeichelte, rollte er sich wieder zusammen, träumte ruhig. Als ich ihn verlassen wollte, schlug er die Augen auf und lachte. Tiefer, als goldene Luren klagen können. Und seine Stimme fing mich, dröhnte: >aber du kannst mich nicht verlassen. Denn ich bin in dir.< Und ich erkannte, dass er in meinem Körper wohnte. >Wenn du nicht meinem Verlangen dienst, dann werde ich dich verbrennen, deine Eingeweide aufreißen und fressen. Und falle ich schließlich dem Tod in die Hand und versteinere hier, so wirst auch du bis zu deinem Ende ohne Leidenschaft und Gefühle leben.<" Rike zog sich ein wenig zurück, starrte die Freundin perplex an. Ginny, die dunkelbraunen Augen in die Ferne gerichtet, lachte leise, träumerisch. "So ein wundervoller Drachen!" Verschwörerisch raunte sie der irritierten Freundin ins Ohr. "Ich verliebte mich auf den ersten Blick." Rike wich nervös zurück. So seltsames Verhalten hatte Ginny noch nie an den Tag gelegt!. Sie sprach gelegentlich beiläufig und scherzend über ihre Träume, zitierte Witze oder Anekdoten, aber dies hier fiel vollkommen aus dem Rahmen. "Ginny, alles okay?" Forschte sie besorgt nach, kämmte schwarze Strähnen hinter die Ohren. Ginny nickte langsam, als müsste sie sich selbst erst davon überzeugen. "Wenn du mich küsst, können die Drachen voneinander träumen." Wisperte sie sanft. Rike zog die Augenbrauen zusammen, aber Ginnys klarer Blick gab sie nicht frei. Sie begriff. "Okay." Lachte sie sanft und küsste Ginny nachdrücklich, intensiv. Schließlich sollten die Drachen schlummern. ~#~ "Also?" Nahm Rike den Faden wieder auf, reichte Ginny ein Glas Eistee und ließ sich neben sie auf die Eckbank fallen. Ginny zeichnete müßig mit dem Zeigefinger Figuren in das Kondenswasser. "Im Grunde ist es ganz einfach. Wenn ich bei meiner Familie bleiben will, muss ich hier kündigen. Kündige ich nicht, muss ich mich von meiner Familie trennen." Rike stöhnte verärgert auf, aber Ginny brachte sie mit einer ungewohnt entschlossenen Geste zum Schweigen. "Sie haben einen ziemlich guten Kompromiss ausgehandelt, das kann ich nicht leugnen. Ich habe die ganze Nacht überlegt, wie ich mich entscheiden sollte, aber als ich einschlief, war ich keinen Schritt weiter." Rike zog die Augenbrauen zusammen, versuchte, ihren bebenden Herzschlag einzufangen. Ginny griff nach ihrem kurzen Zopf, löste ihn und schüttelte die Haare frei, die noch nicht entkommen waren im Laufe des Tages. "Nun habe ich eine Lösung gefunden, mit der ich leben kann." Sie wandte Rike das Gesicht zu, leckte sich vereinzelte Schweißtröpfchen von der Oberlippe. "Ich muss eine eigene Wohnung finden." Rike blinzelte. Dann brach ein erleichtertes Lachen sich Bahn, erschütterte sie so stark, dass sie die Arme um den Körper schlingen musste. Ginny kicherte nachsichtig mit. "Ich bin noch immer eine flatterhafte Träumerin, vergiss das nicht!" Neckte sie Rike. "Du bleibst." Stellte Rike heiser fest, wie, um sich selbst zu versichern, Ginnys Hand über dem Tisch drückend. Dann festigte sich ihr Blick zu seiner gewohnten Ruhe, die braunen Sprenkel tanzten über das warme Grün. "Du kannst sicher bei uns im Gästezimmer bleiben, bis du etwas Besseres gefunden hast." Ginny legte den Kopf schief. "Was wird dein Vater sagen?" Rike rollte die muskulösen Schultern wie ein Preisboxer. "Das finde ich heraus. Heute noch. Aber ich habe keinerlei Zweifel." In ihrer grimmigen Stimme schwang mehr Stahl als in jedem Panzer. Ginny lächelte. "Ich wüsste gern, wie deine Mutter gewesen ist." Murmelte sie verträumt. Rike schwieg einen Augenblick, dann erwiderte sie liebevoll. "Mein Vater behauptet, ich sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur meinen Starrsinn hätte ich von ihm." Ginny grinste, legte dann den Kopf auf Rikes Schulter und schloss die Augen, leise vor sich hin summend. Rike spielte mit Ginnys Fingern und flüsterte leise in die Melodie. "Lass uns auf die Zukunft hoffen und in der Gegenwart leben." ~#~ QUE SERA, SERA performed by Doris Day (by Jay Livingston and Ray Evans for Alfred Hitchcock's 1956 re-make of his 1934 film "The Man Who Knew Too Much" ) When I was just a little girl, I asked my mother, "What will I be? Will I be pretty? Will I be rich?" Here's what she said to me: "Que sera, sera, Whatever will be, will be; The future's not ours to see. Que sera, sera, What will be, will be." When I was just a child in school, I asked my teacher, "What will I try? Should I paint pictures" Should I sing songs?" This was her wise reply: "Que sera, sera, Whatever will be, will be; The future's not ours to see. Que sera, sera, What will be, will be." When I grew up and fell in love. I asked my sweetheart, "What lies ahead? Will we have rainbows Day after day?" Here's what my sweetheart said: "Que sera, sera, Whatever will be, will be; The future's not ours to see. Que sera, sera, What will be, will be." Now I have Children of my own. They ask their mother, "What will I be?" Will I be handsome? Will I be rich?" I tell them tenderly: "Que sera, sera, Whatever will be, will be; The future's not ours to see. Que sera, sera, What will be, will be. Que Sera, Sera!" ~#~ ENDE ~#~ Vielen Dank fürs Lesen! kimera PRODUKTIONSNOTIZEN Auch in diesem Fall bewog mich eine Herausforderung, eine Geschichte zu verfassen, einzig und allein yuri, weil dies zum damaligen Zeitpunkt eine Rarität war. Leider ist es nicht zu der Kooperation in Form eines Doujinshi gekommen, sodass man sich mit meiner Fassung begnügen muss. Ich hoffe aber, dass sie nahe genug an der Realität entstand, um auch der Auftraggeberin zu gefallen. Ich mag die beiden Mädels allerdings sehr und hoffe, dass die Drachen stets beruhigt werden, wahlweise mit süßem Pfefferminz ^_~